„Baunataler wollen keine Bahn nach Kassel“?
KASSEL | BAUNATAL. Rüdiger Hungerland erklärte sich – nach einem Vortrag von Dr. Klaus-Peter Lorenz (Guntershausen) über die Geschichte von Kleinbahn und Straßenbahn zwischen Kassel und Baunatal selbstbewusst zum Verkehrsexperten. Lorenz hält den Bauna-Sprinter für machbar, Hungerland will dann vor Gericht ziehen.
Dabei beruft sich der einstige Lokführer und Sprecher der BI Schienenverkehrslärm Hungerland auf Baunatals neuen Bürgermeister Henry Richter, der die Wiederbelebung der alten Kleinbahn-Strecke für den Personenverkehr kritisch sehe und die Mehrheit der Baunataler, die gegen die Strecke sei. Da Richter ganz offen seine Sympathie für die Wiederbelebungsgegner schon im Wahlkampf gezeigt hat und die Baunataler ihn gewählt haben, könnte da etwas dran sein. Andererseits hat bisher niemand die Baunataler gefragt.
Zuerst zum Thema:
Christian Knauf, Ortsvorsteher in Nordshausen, hatte für die SPD des Kasseler Stadtteils zusammen mit der Initiative „Bauna-Sprinter“ und „Pro Bahn Nordhessen“ ins Bürgerhaus Nordshausen eingeladen. Weil das Thema nach der „Versuchsfahrt“ vor einem halben Jahr interessiert, wie Knauf feststellte. Man müsse zusammenarbeiten. Nicht nur Hessencourrier, erklärt der Ortsvorsteher von Kassels jüngstem Stadtteil, sondern auch die Triebwagen auf dem Weg zur Werkstatt nach Großenritte und der (gesamte) Güterverkehr Verkehr zum VW-Werk. Am Dienstagabend gab es keine Fahrkartenkontrollen aber die Hoffnung, dass weiter erzählt wird. Das wird so sein, denn gekommen waren Kommunalpolitiker aus Kassel und Baunatal, Anwohner der Strecke von Schauenburg bis Kassel, Befürworter und Gegner. Rund 40 Menschen konnten wir zählen.
Dr. Lorenz schilderte, was an der Strecke zu finden ist, beispielsweise das Schulzentrum des Landkreises und eben die Baunataler und Kasseler Stadtteile Großenritte, Altenbauna, Oberzwehren, Nordhausen und Wilhelmshöhe. In Großenritte besteht Anbindung nach Besse oder Naumburg. Wie weit die Bahn nach Westen fahren kann, wäre zu prüfen. Bis zum Hofer Berg in Schauenburg-Elgershausen scheint dies machbar. „Vorstellungskraft bringt uns überall hin“.
Urbane Einheit Kassel/Baunatal
Ausführlich referierte der Guntershäuser Lorenz über die Geschichte der Kleinbahn Kassel Naumburg seit dem 19. Jahrhundert, die Infrastruktur, Hintergründe und Perspektiven. Aktuell, so Klaus-Peter Lorenz, gibt es einen Trend Nebenbahnen zu reaktivieren. Das entspricht der aktuellen Klimapolitik mit der Hoffnung auf mehr ÖPNV.
Der Referent erkennt Defizite in der Stadt-Umlandpolitik und erinnert an Oberbürgermeister Sven Schoellers (Kassel) Grußwort bei der Amtseinführung seines Baunataler Amtskollegen vor wenigen Wochen. Von einem UFO aus betrachtet seien Baunatal und Kassel optisch nicht zu unterscheiden: Eine urbane Einheit. Baunatal bietet 28.000 Arbeitsplätze – allein 15.000 im Volkswagenwerk – bei 29.000 Einwohnern. 24.000 Arbeitnehmer pendeln aus Kassel raus, 60.000 rein in die Metropole. Regionale Verkehrspolitik tue also Not.
Schon immer bürgerschaftliches Projekt
Seit drei Jahrzehnten sind beide Städte mit einer Straßenbahnlinie verbunden. Auch das geschieht „ab Werk“ auf Gleisen der einstigen kommunalen Kleinbahn. Solche Strecken wurden mit Mitteln der Städte im 19. Jahrhundert gebaut. Die Bahn war ein bürgerschaftliches Projekt. Diese Strecke führt viel und steil bergauf. Eine schwierige Topografie erfordert starke Maschinen und hat viel Geld gekostet. Richtung Naumburg nimmt die Siedlungsdichte schnell ab. Täglich 4.500 Fahrgäste hatte die Linie nach dem 2. Weltkrieg. Heute fährt man mit dem Auto zur Bahn oder gleich direkt zur Arbeit. Zeiten ändern sich.
Dabei wären die Chancen heute größer. Endlich gibt es einen Verkehrsverbund und nicht mehr 2 Tickets für 2 Strecken, um nach Kassel zu fahren. Eine zusätzliche Attraktivität läge in guten Direktangeboten. In Stuttgart, so Lorenz, fährt die S-Bahn bis ins Werk.
Für und Wider auf den ersten Blick
Was könnte auf den ersten Blick für eine Reaktivierung mit dem Bauna-Sprinter sprechen?
- Die Strecke ist bestens in Schuss, technisch im ausgezeichneten Zustand für Schwerverkehr, Straßenbahn, Werkstattverkehr und Museumsbahn.
- Die Auflösung alter Nahverkehrs-Denke, sternförmig in die Mitte des Oberzentrums und wieder raus. Stattdessen tangentialer ÖPNV, der Außenbereiche verbindet. Baunatal – Vellmar wäre mit 22 Minuten eine ergänzende Möglichkeit.
- Korbach, Wolfhagen oder Hofgeismar ließen sich ebenfalls anbinden.
- Der bahnlose Stadtteil Nordshausen wäre angebunden.
- Der Stau in der Altenbaunaer Straße würde kürzer.
- Der Werk-zu-Werk-Verkehr Wolfsburg-Baunatal würde vereinfacht und zeitlich verkürzt. Man braucht aktuell länger vom ICE-Bahnhof Wilhelmshöhe nach Baunatal als von Wolfsburg nach Kassel.
Was könnte auf den ersten Blick dagegensprechen?
- Die „Gleissperre“ in Wilhelmshöhe verhindert den Anschluss Richtung Hauptbahnhof. Die ICE-Strecke kann schwer gekreuzt werden. Daher geht auch keine Regiotram.
Hungerland: Grenzwerte nicht eingehalten
Nun reicht ein erster Blick nicht aus. Nur in einem sind sich Lorenz und Hungerland einig: Sternverkehr ist Unsinn. Sonst findet Rüdiger Hungerland von der Bürgerinitiative – mit Wohnung direkt an der Strecke – kaum Gutes an der Idee vom Sprinter: Die Grenzwerte nach der Verordnung zum Bundesimmissionsschutzgesetz würden auch mit modernen Triebwagen nicht eingehalten. ÖPNV sei nur mit Lärmschutz möglich. Das Um- und Übersteigen von Bahn zu Bus funktioniere in Baunatal jetzt schon nicht. Lint-Triebwagen mit Diesel seien weder zeitgemäß noch barrierefrei und schon gar nicht klimagerecht. Außerdem würden nur drei Haltestellen angebunden. Die Straßenbahn hat 18 Haltestellen. Ohne es vorzurechnen, stellt er in den Raum: „Der Zug kostet das Vierfache von dem, was die Straßenbahn kostet.“ Jetzt schon werde Baunatal abgezockt.
Nicht immer nur sagen, wie es nicht geht … Fahrdienstleiter pro + contra
Auch Hans-Jürgen Heinemann wohnt – in Schauenburg – direkt an der Trasse. Er hört Triebwagen fast gar nicht. Er freut sich, wenn Schauenburg einbezogen wird und ärgert sich, immer nur zu hören, wie es nicht geht. Probleme werden sich lösen lassen und Lärmschutz muss natürlich eingehalten werden.
Weitere Kritikpunkte aus der Runde entsprechen entweder den jahrzehntelangen, klischeehaften Vorwürfen gegen den ÖPNV, Busse und Bahnen sind leer, fahren im falschen Takt und kosten zu viel Geld oder kritisieren, dass die alten Bahnsteige zu kurz oder zu niedrig sein könnten.
Fahrdienstleiter Wanja Schläger von der DB sieht einige Schwierigkeiten, insbesondere in der Querung am Bahnhof Wilhelmshöhe. Das sei bei den 5 täglichen Güterzugpaaren zum Volkswagenwerk schon manchmal schwierig.
Pro Bahn: Haltestellen werden erneuert
Ulrich Seng vom Fahrgastverband Pro Bahn versucht zu versachlichen. Noch gäbe es keine Planungen und wenn, dann werden die Haltestellen natürlich ertüchtigt. Vor allem: Bis dieses Projekt realisiert wird, fahren Akku-Triebwagen elektrisch und sind leiser als LKWs. Er vertritt auch die Hoffnung auf eine zukünftig Kreuzungsfreie Querung Am ICE-Bahnof.
Bei einer Testfahrt im Frühjahr 2024 mit damals allen drei Baunataler Bürgermeisterkandidaten Daniel Jung, Gerhild Tuchan und Henry Richter hat es jedenfalls geklappt. Ortsvorsteher Christian Knauf wird es irgendwann zu viel. Es sei schön zu erfahren, was es in Baunatal für Probleme gibt, an diesem Abend ginge es aber vor allem um Nordshausen. Im Ortsbeirat gäbe es noch keine abschließende Wertung. Er freut sich, wenn der Stadtteil besser angebunden wird, vor allem vor dem Hintergrund eine zukünftigen „Baugebietes Dönche“. Autoverkehr wird in Zukunft nicht mehr so fahren wie heute.
Wenn’s ernst wird, verliert VW den einig möglichen Gleisanschluss.
Wenn die Baunataler Bürgerinitiative klagt, ist schwer vorstellbar, dass ein Gericht dann zwischen den bisherigen Güterzügen und zukünftigen Personenzügen unterscheidet. Das Bundesimmissionsschutzgesetz kennt klare Grenzwerte und es ist wahrscheinlich, dass die schweren Güterzüge, die schon jetzt fünfmal täglich auf der Strecke unterwegs sind, mehr Lärm verursachen als die zukünftig leisen Akku-Triebwagen. Wenn ein Gericht tatsächlich feststellt, dass der Schienenverkehr zu laut ist, dann muss er insgesamt eingestellt werden. Damit wird die Aktion zum Angriff auf das Volkswagenwerk mit der Botschaft: Wir sind dabei, Euch den einzig möglichen Gleisanschluss wegzunehmen. In einer Zeit, in der nur noch die Frage zu klären ist, welche(s) VW-Werk(e) der Konzern tatsächlich schließen wird, könnte diese Botschaft die schwierige Entscheidung in Wolfsburg – ob Werke in Niedersachsen, beim Großaktionär oder eben andernorts verschwinden beziehungsweise Mitarbeiter entlassen werden. Bis zu einem Gerichtsurteil wird der Konzern nicht warten wollen.
Berechnet statt gemessen
Andererseits werden Lärmwerte nicht gemessen, sondern berechnet und faktisch besteht darauf nur ein Anspruch bei neuen Strecken oder wesentlichen Änderungen, beispielsweise zusätzlichen Gleisen. Ein Das ist nicht vorgesehen. Bis es ernst wird, werden noch viele Güter- Werkstatt- und Museumszüge – mit kaum CO2-neutralen Dampfloks – auf der Strecke rollen … (Rainer Sander)