
Das Klosterdorf Berich ist noch gut zu erkennen © Foto: Rainer Sander
Weserschifffahrt eingestellt
BAD KARLSHAFEN | EDERTAL. Vor wenigen Tagen auf der Weser hatten die Personenschiffer in Bad Karlshafen schon eine Vorahnung: „Mal sehen, wie lange wir noch fahren können. Wir durften noch mal mitschippern, aber inzwischen ist das vorbei … Aufgrund des niedrigen Wasserstandes hat die Hessen ihren Betrieb eingestellt. Dabei wurde sie so gebaut, dass sie kaum Tiefgang hat.
Die Internetseite der Fahrgastschiffe weist darauf hin. Unsere Fotostrecke zeigt eine der letzten Fahrten in diesem Jahr. Ein Stück Weser aufwärts und dann abwärts bis zum stillgelegten Atomkraftwerk Würgassen.
Inzwischen hat der Edersee seinen Ablass fast dichtgemacht, 30 Millionen Kubikmeter Wasser – statt 200 Millionen bei Volleinstau – sind verblieben in Hessens größtem See. Noch weniger Wasser, dann wird es unangenehm für die Unterwasserwelt im See. Dieser wurde einst für die Regulierung des Wasserstandes auf der schnell fließenden Oberweser und die Sicherstellung der dortigen Schifffahrt errichtet. Was viele Jahrzehnte nur selten vorkam, häuft sich. Der große Teich fällt trocken und offenbart seine Geschichte vor dem Beginn des Einstaus.
Wie war das vor 111 Jahren?
Die ist umso spannender, da sie die meiste Zeit im Verborgenen liegt und niemand mehr da ist, der sich daran erinnert. 111 Jahre wären heute diejenigen, die 1914 bei Fertigstellung der Staumauer das Licht der Welt erblickt haben. Rund 900 Menschen verloren 1913/14 ihre Heimat. Drei Dörfer – Asel, Bringhausen und Berich – sowie mehrere Mühlen, Höfe und kleinere Siedlungen verschwanden in den Fluten. Für die meisten Familien bedeutete das: Häuser abbrechen, Steine und Balken auf Wagen verladen, in höher gelegene Orte umsiedeln und dort neu beginnen. Aus Bringhausen wurde „Neu-Bringhausen“, die Bericher gründeten bei Bad Arolsen ihr neues Dorf.

Wie war das damals, fragen sich meine Tochter und ich unweigerlich damals, als die Menschen hier fortgehen mussten? In der Dorfstelle Berich ist sehr gut zu erkennen, wie die Häuser angeordnet waren. Die Fundamente aus Sandstein, Basalt oder altem Beton stehen noch. Mauern wurden umgestürzt, aber ein paar Schilder künden von der Gaststätte Höhle oder dem großen Hof mit Wirtschaftsgebäuden der Familie Knüppel. Irgendwo steht ein gelbes Schild mit “Schule“. Wer Fantasie hat, sieht die Häuser und Menschen, die durch enge Gasen gehen, von ihrem Hof ins Edertal herabschauen oder Kinder, die auf dem Schulhof spielen. Und vielleicht Bauern, die Schweine und Kühe füttern. Die großen Tröge haben 111 Jahre unter Wasser gut überlebt.
Eine Brücke in die Vergangenheit

Die Kirchen von Bringhausen und Berich wurde Stein für Stein abgetragen und an neuer Stelle in verkleinerter Form wieder aufgebaut. Alte Friedhöfe blieben im Tal – mit Steinplatten abgedeckt, die bei Niedrigwasser erneut sichtbar werden. In Berich sprengten Pioniere die letzten Häuser, weil sich niemand mehr dort niederlassen durfte. Die 134 Einwohner des Klosterdorfes verteilten sich auf umliegende Städte oder zogen auf das Gelände der Domäne Büllinghausen bei Arolsen. An der Bericher Hütte, wo einst Eisen gewonnen wurde, erinnert das Modell der Staumauer, an dem getestet wurde, an den Übergang zwischen vor und nach der Sperrmauer.
Am meisten beeindruckt aber bis heute die Aseler Brücke, die sich bei niedrigem Wasserstand wie ein graues Rückgrat durch das ausgetrocknete Seebecken zieht. Vier Bögen, über die einst Fuhrwerke rumpelten, verbinden auch heute beide Ufer. Wenn man darübergeht, hat man das Gefühl, auf einem Stück Zeit zu wandeln.
Wenn das eine das andere bedingt
Viele, die umgesiedelt wurden, erzählten später von der Wehmut, aber auch von der Entschlossenheit, etwas Neues aufzubauen. Ein Bauer aus Bringhausen soll gesagt haben: „Wir verlieren unsere Felder, aber wir gewinnen die Zukunft unserer Kinder.“ Auch die sind jetzt mindestens im Seniorenalter.
Das „Edersee-Atlantis“ zieht mittlerweile Besucher aus ganz Deutschland an. Führungen, Audioguides und ein engagierter Verein sorgen dafür, dass die Geschichte der versunkenen Orte nicht in Vergessenheit gerät. Und wenn der Wasserstand wieder steigt, versinken die Relikte erneut – bis zur nächsten Dürre, wenn das Atlantis Hessens wieder auftaucht. In der Zwischenzeit aber fahren die Schiffe wieder auf der Oberweser. Noch bleibt das Wasser knapp, und niemand weiß, wann der Edersee sich wieder füllt. Bis dahin zeigt sich das hessische Atlantis – ein Stück Vergangenheit, das nur im Trockenen lebendig wird. Alles auf dieser Welt hängt auf irgendeine Weise zusammen … (rainer sander)
