SCHWALMSTADT. Aus Neugierde, (politischem) Interesse, dem erhofften Unterhaltungswert, der Gewohnheit oder um nach der Spannung im „Tatort“ etwas herunterzufahren. Ganz gleich wieso, knapp 4,4 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer schauten am vergangenen Sonntag die erste Folge der neuen Talkshow von Caren Miosga.
Für diejenigen, die die Sendung schauten, hielt sie allerlei Erkenntnisse bereit: wo die Lampen von KAISER Idell früher produziert wurden (Arnsberg im Sauerland), wie sehr ein Tisch die Gesprächsatmosphäre beeinflussen kann (er trug zur Seriosität und Klarheit bei) oder dass Friedrich Merz immer bei offenem Fenster schläft (seinen Beteuerungen folgend explizit nicht, um etwaige Rufe der Macht zu verpassen). Nicht zuletzt aber wurde die Ansicht des CDU-Vorsitzenden zu den derzeitigen Protesten gegen Rechtsextremismus mehr oder weniger deutlich: grundsätzlich positiv, aber. Dieses ‚aber‘ ist keines der inakzeptablen und verwerflichen Sorte wie „Ich bin kein Nazi, aber…“, sondern vielleicht eher als ‚und‘ zu sehen. Was also ist neben der prinzipiellen Befürwortung der Proteste die zweite mit ihnen verbundene Merz’sche Komponente: das über die Proteste hinausgehende politische und gesellschaftliche Engagement der Bevölkerung. Diese mit einem leichten Lächeln vorgetragene Forderung bezieht er konkret auf das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern in Parteien ‚der Mitte‘: „Wir brauchen in den politischen Parteien mehr Engagement der Bürgerinnen und Bürger, wir brauchen mehr Mitglieder, wir brauchen auch mehr, die sich bereit erklären, für Kommunalparlamente, Landtag, Bundestag, Europaparlament zu kandidieren.“
Zwar klingt diese Forderung, vorgetragen von einem Berufspolitiker, etwas mitleiderregend und dennoch hat Friedrich Merz mit ihr einen interessanten Punkt getroffen, den es zu reflektieren gilt: Was bringen die aktuellen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus? Nun ja, erstens zeigen sie, dass die Straße nicht Pegida, Querdenkern oder anderen bedenklichen Gruppierungen überlassen wird. Zweitens wird durch sie deutlich, dass das stete Warnen der etablierten Parteien vor der AfD nicht länger nur ein Merkmal von Berufspolitikern ist, sondern spätestens seit dem konspirativ-fürchterlichen Treffen in Potsdam in weiten Teilen der Bevölkerung angelangt ist. Und drittens sind diese Demonstrationen ein starkes Symbol und ein wichtiges Zeichen, trotz der Kritik, dass Symbolpolitik generell wenig nutzt – das Gegenteil ist mitunter der Fall: Symbole sind von enormer Relevanz inner- und außerhalb des politischen Diskurses.
Trotz dieser nicht abschließenden Liste ist die Frage nach dem Nutzen der Demonstrationen noch nicht zur vollumfänglichen Befriedigung beantwortet, da den bisher genannten Gründen ein wichtiges Charakteristikum fehlt: Langfristigkeit. Trotz der Hoffnung, dass diese Demonstrationen nicht schnell wieder versanden, besteht natürlich die Gefahr eben dessen. Deswegen gibt es natürlich langfristigere Wege der politischen Partizipation. Zwei dieser Möglichkeiten nennt Friedrich Merz mit dem partei- und dem kommunalpolitischen Engagement (beides hängt nicht zwingend miteinander zusammen). Um die Euphorie und diese antirechtsextremistische Stimmung durch das Wahljahr 2024 zu tragen, bedarf es mindestens dieser beiden Komponenten und noch zahlreicher weiterer gesellschaftlicher Initiativen – nicht nur in Ost-, sondern auch in Westdeutschland, denn auch dort stehen in näherer Zukunft Wahlen an, bei denen die AfD Stimmen hinzugewinnen kann – so agiert sie in Hessen seit dem 18. Januar leider aus der Position der Oppositionsführenden heraus. Umso wichtiger ist es, dass die Verankerung der demokratischen Parteien in der Bevölkerung zunimmt und ein (weiterer) Rechtsruck der Gesellschaft dadurch aufgehalten wird.
Und so kommt diese Kolumne zu einem jähen Ende, sodass noch genug Zeit bleibt, eine Petition im Internet gegen Rechtsextremismus zu unterschreiben, die bedenkliche Nachricht eines (entfernten) Verwandten im Familienchat nicht unkommentiert stehenzulassen, sondern zu beantworten oder die Landtags- oder Bundestagsabgeordnete des Vertrauens anzuschreiben und sich zu erkundigen, wie sehr die AfD die parlamentarische Arbeit erschwert. Sollte all dies nichts für Sie sein, bleibt auch noch genug Zeit, den Mitgliedsantrag einer demokratischen Partei auszufüllen, bevor Sie heute Nachmittag in Marburg, Eschwege oder wo auch immer demonstrieren gehen. Viel Erfolg dabei!
Ihr
Linus Dietrich
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