BAUNATAL | CHATTENGAU | SCHWALMSTADT | NORDHESSEN. Ich lese jeden Tag Meldungen aus Großstädten, in denen Wohnungen fehlen. Zunehmend auch aus den Kleinstädten um die Großstädte herum. In der Stadt meiner Kindheit, Kassel geht praktisch nichts mehr, aber auch in den Umlandgemeinden wie Lohfelden, Vellmar oder der Stadt meiner Jugend Baunatal ist das Ende der verfügbaren Bauflächen erreicht.
Dann sind Gudensberg, Ahnatal und bald Hofgeismar, Wolfhagen, Fritzlar, Melsungen und im übernächsten Schritt vielleicht sogar mein aktueller Heimatort Frielendorf oder der nh24-Firmensitz Schwalmstadt an der Reihe, eine Stadt, die tatsächlich – wenn die Homeoffice-Entwicklungen weitergehen wie bisher – sowohl als Wohnstadt für Arbeitnehmer in Kassel als auch in Frankfurt funktionieren kann.
Gleichzeitig für neue Wohnungen und gegen neue Bebauung protestieren?
Ganz gleich, was wo und wie gebaut wird, es gibt stets und zunehmend überall eine wachsende Gruppe, die sich dagegen wendet. Manchmal mit Erfolg. Nicht unbedingt, weil sie vor Gericht siegen, sondern weil Kommunen sich nicht spalten (lassen) wollen.
In Gudensberg und in Edermünde beispielsweise ist die Verwaltung schon mal „eingeknickt“. In Gudensberg haben sich vor ein paar Jahren diejenigen Einfamilienhaus-Besitzer, die gerade erst den Ur-Gudensbergern die Sicht auf das freie Land verbaut haben, dagegen gewehrt, dass die nächste Generation Einfamilienhaus-Erbauer sich erdreistet, nunmehr ihnen die Sicht zu nehmen. Wie nennt man das? Egoismus? Doppelmoral? Oder egoistische Doppelmoral? Da ging es nicht um Flächenverbrauch, sondern um freie Sicht. Sogar ein Kindergarten wurde verhindert, unter anderem mit Argumenten wie „die Feinstaub-Belastung wird zu hoch“. Wenn es auf dem „Dorf“ gelingt, mit Feinstaubbelastung Baumaßnahmen zu verhindern, dann darf man tatsächlich nirgends mehr einen Kindergarten bauen.
„Aufstocker“ haben Zukunft“
Vielleicht sollten diejenigen, die gerade auch in Baunatal protestieren, darüber nachdenken, welche Alternativen wir haben, die nicht nur in den Medien stattfindende Wohnungsarmut zu beenden. Wenn wir Flächenverbrauch unterbinden wollen, können wir streng genommen gar nichts mehr neu bauen. Alles verbraucht Flächen, auf denen etwas wächst. Das Zauberwort ist ab sofort „Nachverdichtung im Innenbereich“. Jepp! Schnell daher gesagt, ist das die Lösung. Aber schon der zweite Gedanke führt in die erste Sackgasse. Es gibt im Innenbereich von Kommunen sicherlich gelegentlich kommunale Grundstücke und solche, die Wohnungsbaugesellschaften gehören. Alle anderen Grundstücke haben einen anderen Besitzer.
Selbstverständlich können wir enger zusammenrücken, das ist auch vernünftig. Aber: Wer ausschließlich im Innenbereich verdichten will, muss irgendwann auch erklären, wie er an die Flächen herankommen will. Das geht letztlich nur über Enteignung. Viele von denen, die gerade lautstark protestieren, sind nicht unbedingt diejenigen, die in Mehrfamilienhäusern wohnen, sondern Eigenheimbesitzer. Ich finde es ja stimmig, dass das im Grunde die Betroffenen sind, die dann Flächen abgeben müssten. Es gibt kaum ein Haus, das man nicht aufstocken könnte, und Grundstücke, die vor zwei oder drei Jahrzehnten erworben wurden, sind meistens so groß, dass man auf der Fläche ein zweites Haus errichten könnte. Zumindest passt vielleicht noch eines zwischen zwei halbwegs große Grundstücke. Wetten, dass?
Die „Aufständischen“ enteignen?
Ich würde mich glücklich schätzen, dabei zu sein, wenn die Bürgermeisterin oder der Bürgermeister einer Kommune in den Neubausiedlungen verkündet, dass leider ein paar Obstbäume in Gärten verschwinden müssen, weil an dieser Stelle ein Dreifamilienhaus zwischen zwei Bungalows gebaut werden muss. Oder wenn dem alleinstehenden älteren Ehepaar mit Luxus-Villa eröffnet wird, dass sie ihr Haus nur behalten können, wenn sie ein bis zwei Mietwohnungen aufstocken. Was mir aufgefallen ist, dass diejenigen, die gerade am intensivsten gegen Baugebiete protestieren, oft die gleichen sind, die Einwanderung beziehungsweise Flüchtlingsströme am wenigsten eingrenzen wollen. Auch das wird schwer sein, gleichzeitig zu realisieren. Nicht immer sind alle Probleme lösbar.
Die Region soll auch Arbeitsplätze bieten. Wenn Volkswagen davon zukünftig weniger hat und zudem noch weniger Gewerbesteuern zahlt, dann wäre es schön, wenn sich weitere Gewerbebetriebe ansiedeln. Den Ausbau des Sandershäuser Berges in Niestetal wollten genau diejenigen verhindern, die sich über höhere kommunale Abgaben ärgern. Das eine hängt mit dem anderen oft ganz unmittelbar zusammen. Irgendjemand muss das örtliche Schwimmbad finanzieren und wenn die Gewerbesteuer ausfällt und weniger Einwohner Steuern zahlen, müssen alle anderen eben eine größere Last tragen. Das ist zu Hause übrigens auch so. Wird ein Familienmitglied krank oder arbeitslos, müssen andere entweder mehr arbeiten oder die Standards sinken.
Auch klimafreundliche Logistik braucht örtliche Verteiler
In Edermünde haben Bürgerproteste Lidl verärgert. Der Konzern möchte nicht mehr in der Gemeinde erweitern. O. k., andernorts wird man auf die gleichen Proteste treffen, was dazu führt, dass irgendwann die deutschen Lidl-Filialen von Polen aus oder eben gar nicht mehr beliefert werden. Das finden weder das Klima noch diejenigen, die auf Discounter angewiesen sind, gut. Und es ist nicht ganz schlüssig, für den Klimaschutz ein Grundstück zu retten und abschließend jede Menge online zu bestellen und die Transportlogistik damit zu „fördern“
Ok, wir sind wieder am Anfang der Geschichte: es gibt Menschen, die sich kein Eigenheim leisten können, sondern auf Mietwohnungen angewiesen sind und genau diejenigen sind aktuell die Verlierer auf dem Wohnungsmarkt.
Das Ende der Solidarität
In Schwalmstadt gehen Menschen damit ganz offen um, dort sollen im ältesten Villenviertel des Stadtteils Treysa 16 Mietwohnungen „auf einem Haufen“ gebaut werden. Das Hauptargument gegen die Baupläne, so die Kommentare bei nh24 unter dem betreffenden Artikel aus der Stadtverordnetenversammlung, ist, dass Mehrfamilienhäuser einfach nicht in Einfamilienhaus-Siedlungen passen. Also optisch 😉 Na klar! Außerdem wird wegen der 16 Wohnungen ein Verkehrschaos gesehen. Auch klar 😉 Das vermuten diejenigen, die gerade selbst bei der letzten Erweiterung der Siedlung gebaut haben und deren Farbe auf dem Putz noch nicht ganz trocken ist. „Wir waren hoffentlich die Letzten, die hier bauen durften!“
In Baunatal soll eine Siedlung entstehen, in der – im Trend der Zeit – Einfamilienhäuser gar nicht mehr vorgesehen sind. Das Hauptargument der Unterschriftensammler ist aber, dass Siedlungen mit Einfamilienhauscharakter nicht mehr zeitgemäß sind. Da hat jemand Spaß dran, offene Türen einzurennen!
Warten wir, bis die Kinder und Enkel Wohnungen suchen
Ich wage gerne eine Prognose: Wenn die Kinder oder Enkel derjenigen, die heute gegen Baugebiete auf die Straße gehen, eines Tages so weit sind, selbst ein Eigenheim bauen zu wollen, werden sie sich genauso für die Anliegen ihrer Sprösslinge einsetzen wie alle anderen. Was wünscht man sich jetzt? Kinderreiche Protestbewegungen?
Es ist nicht schwer für alles Sympathie zu entwickeln, für jeden Protest und für jede Not. Für jeden, der keine Fläche zusätzlich versiegeln will sowie für alle, die keine Wohnung finden und gezwungen sind, ständig höhere Mieten zu bezahlen oder irgendwann auf der Straße sitzen werden. Beides wird einfach nicht gleichzeitig zu lösen sein. Solange diese Erde wächst und die Bevölkerung weltweit zunimmt, werden wir mit dem Gedanken leben müssen, dass wir entweder jemanden bei uns zu Hause aufnehmen sollten oder aber gelegentlich das eine oder andere Haus neu bauen müssten.
Haben oder Sein …
Am Ende wird irgendeine Einigung stehen. Im Moment sind die Klimaschützer verbal und auch in ihren Aktionen zunehmend bereit, zu eskalieren. Wenn auf der anderen Seite Eskalationsbereitschaft bei denjenigen entsteht, die kein Dach mehr über dem Kopf haben, wird es auf Deutschlands Straßen spannend. In Frankreich würde man sagen, dass dann die Gelbwesten auf die Sansculotten treffen.
Das Interessante ist, dass Politik genau diese Probleme nicht lösen kann. Wir können Firmen und Menschen nicht vorschreiben, was sie wann und wo zu bauen haben oder eben nicht. Wir können – im Gegensatz zu China – Bevölkerungsentwicklung nicht durch Sanktionen regeln.
Ein paar leerstehende Hofreiten kann man sicherlich enteignen und entschädigen. Das Problem ist, dass davon in Kassel oder Baunatal sehr wenige zu finden sind. Und die meisten Menschen in Kassel können schon allein mit dem Begriff gar nichts anfangen.
Ihr
Rainer Sander
4 Kommentare
Bevor ich Vermiete lass ich dann doch lieber das Haus oder die Wohnungen leer Stehen und muss mich nicht mit den Mietern rum Ärgern und im schlimmsten Fall sind die dann auf einmal weg und der Schaden den sie Angerichtet haben übersteigt die Mieteinnahme um ein Vielfaches.
Hinter jedem Flächenverbrauch verbirgt sich ein Schicksal. Landwirte werden gezwungen ihr Eigentum nicht dem Nachbarn zu verkaufen, sondern die Gemeinden holen sich das Land über ihr verbrieftes VORKAUFSRECHT um jeden Preis. Wenn man bedenkt ,das in vielen Gemeinden Häuser nur noch von Einzelpersonen bewohnt werden, sprich in den nächsten 5 bis 10 Jahren, leer stehen, sollte man diese Häuser gezielt jungen Familien anbieten. Von den vorhandenen Leerständen ganz zu schweigen. Von welchen Arbeitsplätzen schreiben Sie? Fachkräftemangel Landauf- Landab, also für wen sollen weitere Flächen versiegelt werden? Logistiker sind wie Zigeuner, sie mieten Überdimensionierte Hallen für 10 bis 15 Jahre, dann ist die Abschreibung durch und sie ziehen weiter. Beispiel Gudensberg: eine der Rudolph Hallen steht / stand seit geraumer Zeit zum Verkauf, heißt sie steht leer oder wird kurzzeitig genutzt., Lohfelden ist auch ein Beispiel über Leerstände. Nichts anderes wird entlang der A 49 geschehen. Fazit zu Ihrem Artikel: geschätzte 90 % der Journalisten sind keine, sondern lediglich Journalistendarsteller. Sie verbreiten keine Nachrichten, sondern lediglich Haltung und Ideologie. @chrilikon.
Es gibt keinen Wohnungsmangel.
Es gibt einen Vermietungsmangel.
Nach dem Krieg wurde zwangsbelegt.
DAS sollte man jetzt und in Zukunft auch mach
Diese Kolumne muss leider an vielen Stellen des Textes als gezielt polemisch, polarisierend und in keiner Weise aufklärend, bzw. zukunftsweisend betrachtet werden.
Journalistisch kann man m.E. wesentlich sinnbringender mit diesem Thema umgehen. Z.B. über die Themen: Anreize, statt Verbote, Motivationserzeugung, statt Verdruss und Demographie und aktueller Häuserbestand!
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