
Kreisverwaltung Homberg © Foto: Alexander Wittke
Oder: Wie bekommt man Schwälmer dazu, im Vogelsberg einzukaufen?
KÖRLE | SCHWALM-EDER. Hat sich das Land Hessen einen Spaß erlaubt oder tragen Kommunalpolitiker andere Brillen als Landespolitiker? Ist es ernst, dass über 45.000 Schwälmer, Kellerwalder, Stölzinger, Edermünder und Fuldataler aus dem Schwalm-Eder-Kreis verstoßen werden, über ein Viertel der Bevölkerung?
Eins muss man dem Land Hessen lassen: es ist mit dem Landesentwicklungsplan gelungen dort Lokalpatriotismus zu beleben und Kopfschütteln dort zu erzeugen, wo man in Wiesbaden – wohl am Reißbrett genauer gesagt im Google-Routenplaner ein paar Striche gezogen hat. Der Landesentwicklungsplan sollte unter anderem die Anzahl und die Bedeutung von Mittelzentren in Hessen neu bewerten und Zuordnungen dort ändern, wo sie Sinn stiften. Dabei ist der Begriff des Mittelzentrums eine neuzeitliche Erfindung, aber mittelalterliche Bindungen sind in den mittelalterlichen Städten im Kreisgebiet ohnehin passé.
Weniger Einzelhandel im Schwalm-Eder-Kreis – Abwanderung in Nachbarkreise?
Kontrovers wurde jedenfalls im Kreistag Schwalm-Eder gestern in Körle (Berglandhalle) diskutiert, ob ein neuer Landesentwicklungsplan auch Auswirkungen auf mögliche Schulstandorte haben könnte. Was indes wohl unbestreitbar ist: neben der Bewertung von Einzelhandelsflächen, dürfte eine veränderte Zuordnung den kommunalen Finanzausgleich deutlich tangieren. Wenn (Ver-) Bindungen anders gesehen werden, bekommen Städte außerhalb des Kreises – als erweiterte Mittelzentren – auch mehr Geld. Eigentlich, so ist aus dem Landesentwicklungsplan herauszulesen, muss ein Mittelzentrum mehr als 20.000 Einwohner haben. Das schafft im Kreis Schwalm-Eder keine einzige Stadt ohne eine erneute Gebietsreform.
Folgende Städte und Gemeinden aus dem Schwalm-Eder-Kreis würden einem Mittelzentrum außerhalb des Kreises zugeordnet:
- Edermünde zu Baunatal
- Morschen zu Rotenburg/Fulda
- Spangenberg zu Hessisch Lichtenau
- Oberaula zu Bad Hersfeld
- Ottrau zu Alsfeld
- Schrecksbach zu Alsfeld
- Bad Zwesten zu Bad Wildungen
Immerhin, Bad Emstal aus dem ehemaligen Kreis Wolfhagen und dort eigentlich sehr eng angebunden, wird dem Mittelzentrum Fritzlar zugeordnet. Respekt!
Antrag von SPD und FWG gegen die Zuordnungen im Plan
Wir sehen die Gefahr, dass die Neuzuordnung der Mittelbereiche Einfluss auf zukünftige Neustrukturierungen und Anpassungen von Handlungsfeldern der Daseinsvorsorge nach sich ziehen können, so SPD und FWG in einem gemeinsamen Antrag gegen den Landesentwicklungsplan. Genannt werden können hier der Nahverkehrsplan, die Schulbezirke, die Versorgungsbezirke der Kassenärztlichen Vereinigung oder die Gerichtsbezirke. Hier ist offenbar eher dem einfachen Maßstab der Erreichbarkeit mit dem Pkw gefolgt worden, denn einer differenzierten, den Lebensalltag der Bevölkerung berücksichtigenden Abwägung. Im Schwalm-Eder-Kreis haben sich in den letzten Jahren zahlreiche interkommunale Zusammenschlüsse gebildet, die sehr erfolgreich zusammenarbeiten. Diese werden durch diese Neuzuordnung gefährdet.
Die Verknüpfung zwischen Landesentwicklungsplan und Kommunalem Finanzausgleich muss, so FWG und SPD aufgehoben werden, denn der Landesentwicklungsplan betrachte prognostizierte zukünftige Entwicklung, wohingegen sich die Finanzierung durch den kommunalen Finanzausgleich auf den derzeitigen Entwicklungsstand beziehe.
Bernd Hessler: Klimaschutz und alte Bindungen missachtet?
Bernd Heßler (SPD) findet, der Landesentwicklungsplan klingt akademisch, ist aber das zentrale Instrument der Raumplanung und für die Aufstellungsprozesse. Aktuelle Herausforderungen, wie der Klimawandel, wären zentrale neue Punkte. Für SPD und FWG, so Heßler, sei die Zuordnung von Kommunen in Mittelzentren außerhalb des Kreises überholt. Die jetzt vorgenommenen Zuordnungen sind von Praktikern nicht nachzuvollziehen. Man habe die Hessenagentur stattdessen beauftragt, ein Verfahren zum motorisierten Individualverkehr zum nächsten Mittelzentrum zu entwickeln. Zum Beispiel Spangenberg zukünftig nach Hessisch Lichtenau zuzuordnen, missachte gewachsene Strukturen. Schrecksbach und Ottrau gehören zum Schwälmer Kerngebiet. Das sei untrennbar mit Städten wie Treysa und Ziegenhain (Schwalmstadt) verbunden. Jetzt wolle man sie nach Alsfeld anbinden? Die Regionalversammlungen in Nord- und Osthessen sowie in Mittelhessen haben diese Gedanken abgelehnt.
Prof. Dr. h.c. Ludwig Georg Braun (FDP): „95 Mittelzentren bündeln“
Prof. Dr. h.c. Ludwig Georg Braun (FDP) findet: „95 Mittelzentren in Hessen muss man bündeln“, allerdings in Südhessen und nicht in Nordhessen. Jetzt vermutet er, wird die Regionalplanung zur schleichenden Gebietsreform. Er ist erschrocken darüber, wie sehr die GRÜNEN, die Beteiligung der Menschen, die sie sonst einfordern, so ignorieren und extrem an der Realität vorbeigehen. „Die GRÜNEN tun mir leid, sie werden in der Kommunalwahl die Schläge dafür bekommen“, ist er sich sicher. „Die Menschen spüren, dass das genau gegen sie gerichtet ist.“ Wie könne man die Verbindung von Spangenberg zu Melsungen so ignorieren, fragt er. Von der Liebenbachstadt nach Melsungen sind es 10 Minuten. Ein gemeinsames Ordnungsamt habe man sogar. Stärkungen im Schwalm-Eder-Kreis sollte man vornehmen und nicht 45.000 Menschen aus dem Kreis „ausgliedern“. Im Land Hessen habe man nicht begriffen, was es bedeute, regionale Strukturen aufzubauen. Das spiele der AfD zu. Verkehrsstränge und IT müssten ausgebaut werden. Die FDP schließt sich SPD und FWG an.
Markus Opitz (FWG) greift ein Beispiel aus der Praxis auf: Morschen ist von Melsungen 13,9 Kilometer entfernt, von Rotenburg 13 Kilometer. Entscheiden jetzt 900 Meter? Morschen ist Richtung Hauptarbeitgeber B. Braun und Melsungen ausgerichtet. Ottrau arbeitet mit Neukirchen und Oberaula interkommunal zusammen und die Bürger wurden sogar bereits zu einer Fusion mit Neukirchen befragt.
Mark Weinmeister (CDU): Keine Ängste schüren!
Mark Weinmeister (CDU) hatte beim ersten Lesen des Antrags viel Sympathie. Jetzt aber – in der Diskussion – fühle er sich wie in einem anderen Land. Jetzt würden bewusst Ängste geschürt. Das Land will möglichst viele Mittelzentren stärken. Borken hätte es beispielsweise verdammt schwer. Eine Expertenkommission habe das so vorgeschlagen und dazu gibt es natürlich jetzt viele Fragen. Das alles sei aber noch nicht beschlossen! Wir, so Weinmeister, müssen jetzt deutlich machen, was wir wollen. Spangenberg gehöre natürlich nach Melsungen. Oberaula war aber immer schon nach Bad Hersfeld und nie nach Schwalmstadt orientiert. Sogar die Zeitung kommt aus Bad Hersfeld. Die Ottrauer fahren halbe-halbe nach Alsfeld und Schwalmstadt zum Einkaufen. Seine Bitte: die Kirche im Dorf lassen und nicht sagen, es darf keine kreisübergreifenden Zuordnungen geben. Es gehe nicht um Gebietsreformen und andere Schulzuordnungen.
Hermann Häusling (B90/GRÜNE) ist des Lesens mächtig. Im Antrag stehe etwas von Schwächung des ländlichen Raums. Es gehe aber um die Stärkung. Mit Blick auf Herrn Rudolph sagte er: Ein Landtagsabgeordneter (Rudolph/Anmerkung der Redaktion) müsse sich natürlich aufregen. Aber alle Punkte, bis auf die Zuordnung der Kommunen seien im Landtag zu entscheiden. Die Definition eines Mittelzentrums hänge indes nicht an der Wasserversorgung oder dem Forstamt. Als Bad Zwestener wisse er, Bad Wildungen sei nur 10 Kilometer und beide Kurstädte, beide können ideal kooperieren. 10 Minuten Weg für Chancen, Synergien. Es ist nicht alles falsch, was aus Wiesbaden kommt. Zwischenruf von Günter Rudolph: „Aber auch nicht richtig!“
Winfried Becker (SPD): Plan schürt Angst, nicht die Kritik daran
Landrat Winfried Becker (SPD) schickte vorweg, dass sich Nordhessens Wirtschaftskraft und Arbeitsplatzentwicklung weiterentwickelt hätten. Der Plan schüre Angst, nicht die Kritik daran. Er zerschlägt, findet der Landrat, was über Jahrzehnte aufgebaut wird. Wenn neue Zuordnungen entstehen, wird das zwangsläufig auch finanzielle Konsequenzen haben und natürlich auch den ÖPNV sowie irgendwann Schulfragen betreffen. Der Kreis kann dem Entwurf des Landesentwicklungsplanes nicht zustimmen.
Plan wird im Kreis so abgelehnt
Die Mehrheit der Kreistagsabgeordneten folgte dem SPD/FWG-Antrag. Jetzt kommt es darauf an, ob sich in Wiesbaden jemand dafür interessiert. (rs)
Mal so betrachtet (Kommentar)…
Tatsächlich gehörte Spangenberg einst sogar zur Grafschaft Ziegenhain und als in Alsfeld das Kaufhaus und andere Einzelhändler verschwanden, fuhren die nördlichen Vogelsberger sogar heimlich selbst nach Schwalmstadt zum Einkaufen, wird erzählt… Die Mengsberger, als alte Heckeschwälmer und sogar die Neustädter im Kreis Marburg, tun das ganz offen und ganz gleich, ob das offizielle Mittelzentrum Stadtallendorf heißt oder nicht. Die letzte Generation aus Edermünde ist noch vor 40 Jahren ganz sicher nicht nach Baunatal gefahren, weil es dort schlicht noch gar keine richtige Stadt gegeben hat. Die heutige Generation macht aber genau das. Diese extrem junge Bindung wollen SPD und FWG übrigens nicht angreifen. Dort wohnen allerdings auch ein paar der lautesten Kritiker am Plan…
Tatsächlich war Fritzlar im Mittelalter als katholische Enklave kaum „Mittelzentrum“ mitten im protestantischen Hessen – heute schon. Und noch weiter zurück, in der Eisenzeit vereinten die keltischen Fürsten auf der Altenburg schon einmal die Siedlungen im heutigen Bad Zwesten mit denen in Borken. Die Freiherren von Dörnberg verbanden Städte wie Oberaula sogar über Ottrau hinweg bis zur Burg Herzberg in Breitenbach, im heutigen Kreis Hersfeld-Rotenburg, aber unmittelbar vor den Toren Alsfelds gelegen, wohin vermutlich die meisten Breitenbacher zum Einkaufen fahren…
Zuordnungen sind oft gefühlt wahnsinnig alt aber gerade mal über wenige Generationen „gewachsen“ und ändern sich rasend schnell, wenn andere Bindungen mehr versprechen. Handelsverbindungen sind nicht immer identisch mit „familiären“. Das Gerede vom „schon immer“ und „uralten Verknüpfungen“ ist nicht selten ziemlicher Blödsinn. Das Problem ist ein anderes. Als zu Beginn des 13. Jahrhunderts Graf Ludwig I. von Ziegenhain sogar die Ritter von Treffurt (heutiges Thüringen) mit der Herrschaft über Spangenberg belehnte, war das eine Frage der Herrschenden und auch des Geldes für die Herrschenden. Heute entscheiden Einkaufszentren, Verkehrswege oder Arbeitsplätze über Bindungen. Auch über deren Veränderungen. Die Menschen tun das selbst, wenn ihnen danach ist und etwas anderes mehr verspricht. Verordnetes wird stets als Machtdemonstration empfunden und – wenn es dem momentanen Empfinden so rein gar nicht entspricht – ja auch zu Recht. Vor allem dann, wenn damit finanzielle Vor- und Nachteile verbunden sind.
Würde man die aktuellen, sehr regionalen Bindungen stärken und gleichzeitig dem Umstand Rechnung tragen wollen, dass mit der Digitalisierung manch kommunale Behörde schlicht überflüssig und zukünftig viel zu teuer sein wird, könnte man tatsächlich so manch zarte interkommunale und längst auch als alt „gefühlte“ Bindung mit echten Zusammenschlüssen von Kommunen faktisch besiegeln… Das würde – zu Ende gedacht – sogar manche Landkreise und vor allem solche Diskussionen überflüssig machen… (Rainer Sander)