Nancy Faeser und Olaf Scholz in Baunatal
BAUNATAL. Eine Bundesinnenministerin und ein Bundeskanzler in einer nordhessischen Kleinstadt, das kommt selten vor und noch seltener gleichzeitig. Zum Auftakt der heißen Phase in der hessischen Landtagswahl präsentierten sich die nördlichen Wahlkreiskandidaten der SPD zusammen mit Nancy Faeser und Olaf Scholz vor 1500 Besuchern auf dem Baunataler Marktplatz.
Nach Ankunft im Rathaus führte Nancy Faesers und Olaf Scholzes Weg unmittelbar ins Trauzimmer. Ein netter Raum mit romantischer Dekoration und – am gestrigen Tag – dem Goldenen Buch der Stadt Baunatal. Das zieren nun die Unterschriften eines Bundeskanzlers und einer Bundesinnenministerin, die sich dort gemeinsam verewigt haben. Wie lange die Gemeinsamkeit hält, wird vom Erfolg der „Operation“ abhängen.
Gegen eine rein südhessische Landesregierung
15 Nord-, Ober- und Osthessischen SPD-Kandidaten durften in zwei Runden zuerst auf die Bühne und sagen, was sie gerade umtreibt. Vornean stand der ländliche Raum mit seinen besonderen Problemen und der schlechten Finanzlage der nordhessischen Kommunen. Oliver Ulloth brachte die politische Vertretung der Region auf den Punkt: „Es ist kein einziger Nordhesse im Kabinett, Hessen wird regiert von einer rein südhessischen Landesregierung.“
Timon Gremmels, SPD-Bezirks- und stellvertretender Landesvorsitzender, hatte die Zuschauermenge begrüßt und erklärt, warum Baunatal ausgewählt wurde, um von dort aus in den nördlichen Landesteilen in den Wahlkampf zu ziehen. Die Stadt sei die Herzkammer der nordhessischen Sozialdemokratie. Er kritisierte, Hessen habe mit 38 Monaten die längste Genehmigungsdauer für Windkraftanlagen und rangiert damit noch zwei Monate vor den Bayern und der Staatsforst Hessen erhebe bundesweit die höchsten Kaufpreise für Windkraftgrundstücke. Die könnten sich nur große Konzerne und keine Bürgerenergiegenossenschaften leisten.
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Eine kleine Gruppe unermüdlicher Demonstranten
Ein paar Handvoll tapferer und unermüdlicher Demonstranten hatten sich schon vor der Ankunft von Faeser und Scholz auf dem Europaplatz versammelt. Die Themen waren „Guter Putin“, „Böse Medizin“ und „Böse Politik“. Als Nancy Faeser und Olaf Scholz die Bühne betraten, waren die Protestierer umgezogen, hatten sich rund um den Marktplatz versammelt und sorgten – wie Fußballfans – mit Tröten, Pfeifen, Schlachtrufen und reichlich Alkohol für laute Töne und „prächtige Stimmung“ auf den Stehplätzen. Die Alternative für Alles …
Der Bundeskanzler hatte das Anliegen der Störung. Die Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland findet nicht nur Freunde. Olaf Scholz erinnerte daran, dass deshalb seit Ende des Zweiten Weltkrieges Friede in Europa geherrscht habe, weil es Konsens gewesen sei, das Grenzen nicht mehr mit Gewalt verschoben werden: „Wo kämen wir hin, wenn das alle machten“. Die Demonstranten sollten anfangen, Geschichtsbücher zu lesen. Tatsächlich wurden europäische Grenzen immer verschoben. Würden alle Staaten irgendwelche alten Grenzen wiederherstellen wollen, hätten wir 100 Jahre Krieg in Europa.
Blick vom Empire State Building auf den Baunataler Marktplatz
Angereist war Olaf Scholz aus New York, wo er auch das Empire State Building besucht habe, dass in nur 15 Monaten errichtet wurde. In dieser Zeit hätten wir es in Deutschland nicht einmal genehmigt. Hier dauert einfach alles zu lange, so seine Feststellung zum bisherigen Deutschland-Tempo.
Überlegungen zur Digitalisierung des Gesundheitswesens gebe es seit 14 Jahren, passiert sei nichts. Baugenehmigungen gelte es zu vereinfachen. Was einmal irgendwo genehmigt wurde, muss überall gelten. Es müsse auch nicht jedes Auto in jedem Landkreis neu für den Straßenverkehr zugelassen werden. Das würde für mehr Tempo im Wohnungsbau sorgen. Die Zinsen seien schließlich immer noch niedrig mit rund 4 Prozent. „Es sind nicht die Zinsen“, sagt Scholz, „sondern es wurden jahrelang die falschen Wohnungen geplant.“ Sie seien alle zu groß. Im Übrigen wurden die meisten Wohnungen pro Jahr bei Zinssätzen von 9 Prozent gebaut. Jetzt gäbe es 18 Milliarden Euro für den Sozialen Wohnungsbau. Knapp die Hälfte aller Haushalte habe im Übrigen Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein. Das sei keine soziale Randgruppe.
Vieles funktioniert nicht wie bisher bei 10 Milliarden Menschen
Die bisherigen Systeme funktionieren nicht mehr mit 10 Milliarden Menschen auf der Erde, schaute der Bundeskanzler voraus. Im Übrigen sei er stolz auf die deutsche Automobilindustrie, die sich auf der IAA fit für die Zukunft präsentiert habe.
Dann leitete er über zu Nancy Faeser, die das Fachkräfteeinwanderungsgesetz geschaffen habe. Aber es gehe, sagte er, auch darum, illegale Einwanderung zu stoppen, und wenn Integration nicht so super gelaufen ist oder bei Straftaten, dann muss es auch wieder zurückgehen in die alte Heimat. Er kritisierte die fehlende Digitalisierung der Ausländerbehörden. Alle 16 Länder haben dafür jetzt einen Plan unterschrieben. „Wir eröffnen gleichzeitig legale Wege, um zu kommen.“
Schließlich verteidigte er den Mindestlohn. Das Land muss auch zusammenhalten. Am besten seien Tarifverträge und gut bezahlte Arbeit. Bei Einführung des Mindestlohns von 8,40 Euro waren 6 Millionen Arbeitnehmer betroffen. Jetzt bei zwölf Euro sind es 12 Millionen, die davon profitieren: „Das ist beschämend!“
Schlechte Bilanz für Hessen
Hessens Spitzenkandidatin der SPD ging sofort auf den Wahlkampf ihres Gegenkandidaten Rhein ein. Er rede gerade wenig über Hessen, weil die Bilanz so schlecht ist. Kommunen würden in Hessen so schlecht wie in keinem anderen Bundesland unterstützt. Beispielsweise würden lediglich 8 Prozent der Kosten des ÖPNV finanziert und kommunale Krankenhäuser müssten schließen, weil sie kein Geld mehr haben.
Kindertagesstätten seien eine Belastung für die Kommunen. Die SPD will, dass das Land zukünftig zwei Drittel der Betriebskosten trägt. Geld des Bundes für Geflüchtete müsse 1:1 an die Kommunen gehen. Auch sie ging auf die aktuelle Flüchtlingssituation ein. Sie erinnerte, auch Deutsche waren einmal sehr auf Flucht in andere Länder angewiesen. Diejenigen, die hier sind brauchen gute Bedingungen. Jetzt werde Sicherheit an den EU-Außengrenzen geschaffen.
Mangel ist hausgemacht
Zum Fachkräfte- und Lehrermangel stellte sie fest, man habe gewusst, wie viele Kinder geboren werden und dass viele Erzieherinnen in Rente gehen. In 25 Jahren habe man sich in Hessen nicht darauf vorbereitet. Nicht einmal die Ausbildung für Erzieherinnen werde bezahlt. Ihr Plan sei außerdem eine Erhöhung der Studienkapazitäten für Lehreinnen und Lehrer. Tatsächlich legt aktuell nur Hessen keine Zahlen vor über tatsächliche Unterrichtsausfälle und fehlende Lehrer.
Sie lese auf CDU-Plakaten die Forderung, dass der Meisterbrief kostenfrei sein müsse. Das sei eine alte SPD-Forderung. Wie verlogen ist das denn, fragt sie. Das gleiche gelte für die Ankündigung, die Grunderwerbsteuer abschaffen? Das erkläre eine Landesregierung, die sie gerade von 3,5 auf 6 Prozent erhöht habe. Um mehr Hausärzte zu gewinnen, will Faeser mehr Studienplätze für solche schaffen, die sich verpflichten, anschließend als Ärzte aufs Land zu gehen.
Mit dem Käfer nach Berlin und Wiesbaden
Der Wohnraum sei zu teuer. 40.000 Sozialwohnungen sind abgeschafft worden. Statt zwei Drittel des Einkommens für die Wohnung dürfe diese zukünftig nur ein Drittel in Anspruch nehmen. Boris Rhein rede von einem Schutzschirm gegen die Ampel. Die Sozialdemokratie habe stets auf der richtigen Seite gestanden. Wo, will sie wissen, ist der Schutzschirm gegen Rechts? Die AfD wolle, dass Menschen bis 70 arbeiten und Kinderbetreuung nicht mehr stattfindet.
Olaf Scholz erkennt in Nancy Faeser eine Frau, die einen Plan hat. Sie sei die richtige Ministerpräsidentin für das Land Hessen. Bürgermeisterin Manuela Strube verabschiedete beide mit Präsenten, im Rathaus hatte es bereits VW-Käfer gegeben. (Rainer Sander)