nh24-Sonntagsspaziergang in Ottrau
OTTRAU. Viele Schönheiten von Ottrau erschließen sich erst auf den zweiten Blick. Man muss da gewesen sein, um Besonderheiten zu begreifen. Man erfährt auch bei Wikipedia oder auf der Internetseite nicht allzu viel über das, was die kleine Großgemeinde (nur 2800 Einwohner in sechs Dörfern) ausmacht.
Wir verlassen den Weg der Sachlichkeit und tauchen ein in ein Kleinod am südlichsten Rand des Schwalm-Eder-Kreises, beginnend im Ortsteil Weißenborn. Der Spaziergang bis zum Kloster Immichenhain ist etwa 10 Kilometer lang. Wer kürzer schlendern will, beginnt erst am Sebbelsee oder steigt in der Kerngemeinde wieder aus.
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Weißenborn schmiegt sich in die hügelige Landschaft des Knüll. Sehenswert ist die Dorfkirche und vor allem die uralte Dorflinde dort zu finden, wo früher auch das Schulhaus gewesen ist. Darauf kommen wir später kurz zurück. Über den Sandweg gelangt man von hier über die Felder und Wiesen zur Steinmühle. Es waren die Mühlen, denen unsere Vorfahren es verdanken, dass Landschaften, die bis dahin von Sümpfen beherrscht wurden, einst im Mittelalter zu fruchtbaren Kulturlandschaften wurden. Mit Wasserkraft wurden Mühlsteine bewegt und Sägegatter angetrieben.
Steinmühle: Mühle und Sägewerk zugleich
In der Steinmühle bei Schorbach gab es beides: Mühle und Säge. Immer zum Mühlentag öffnet sich die historische Anlage mit dem Mühlenfest. Die 1592 wurde zum ersten Mal erwähnte Mühle ist seit 1850 im Besitz der Familie Kurz. Seit 1880 war der Mühle die Säge angegliedert. Sie wurde ebenfalls vom Mühlrad angetrieben und 1940 zu einem Vollgatter mit mehreren Sägeblättern ausgebaut. Das selbst gebaute Sägegatter ist ein absolutes Unikat. 1978 wurde der Mühlenbetrieb eingestellt. Die Mühle ist inzwischen ein sehr lebendiges Museum. Seit 2001 unterstützt ein Förderverein die Familie Kurz bei der Erhaltung dieses einmaligen Museums.
Von hier ist es nicht weit zum Sebbelsee. Für den Bau der Eisenbahnstrecke von Treysa nach Bad Hersfeld 1905 – 1907 wurde im Raum nördlich von Ottrau Basalt abgebaut. So auch im Steinbruch im Sebbelwald. Die Bahnlinie ermöglichte den günstigen Abtransport des Materials, wozu eigens eine Verladestation mit Gleisanschluss angelegt wurde. Der Bahnhof Ottrau ist heute ein kleines Gewerbezentrum und nur noch Accessoire am bekannten Bahn Radweg durchs Rotkäppchenland. Nach der Ausbeutung blieb ein großes Loch, das heute mit Wasser gefüllt ist. Der Sebbelsee gilt als besonders reizvolles und romantisches Ausflugsziel mitten im Wald.
Politisches und kulturelles Zentrum
Von hier führt der Weg zum Kernort Ottrau mit seiner hübschen Dorfkirche, einer im Dorf verteilten Infrastruktur, einem Schwimmbad und der Mehrzweckhalle, die das kulturelle Zentrum der Großgemeinde ist. Politisches Zentrum ist das Rathaus, das zur Osterzeit durch den österlich geschmückten Dorfbrunnen besonders auffällt.
Durch den Wald geht es parallel zur Landesstraße 3340 nach Immichenhain. Im Ort fallen heute eine große Autowerkstatt und die Schnapsbrennerei Keil ins Auge. Ihr verdankt die Region den 40-prozentigen Schwälmer Hännes. Früher war das Kloster Immichenhain für die ganze Region bedeutsam. Ursprünglich als Prämonstratenser-Doppelkloster errichtet, ging daraus ein Augustiner-Chorfrauen-Stift hervor. Im Jahre 1441 wurde das Stift unter dem Einfluss des Klosters Böddeken zu einem strengeren und regeltreuen Klosterleben im Sinne der Windesheimer Kongregation reformiert, bis es durch die Reformation in der Landgrafschaft Hessen unter Philipp I, 1527 seinen Status als Kloster verlor. Seitdem ist es im hessischen Staatsbesitz, heute der hessischen Staatsdomäne Immichenhain.
Zwei Künstler: Pitt Moog und Wolfgang Schwalm
Ottrau verlassen haben zwei wichtige Künstler und Söhne des Ortes: Der Maler Pitt Moog, der seine Kindheit in Weißenborn als Sohn des dortigen Schulmeisters verbracht und später als Schüler von Arnold Bode am Entstehen der Kasseler documenta maßgeblich mitgewirkt hat, sowie der Musiker Wolfgang Schwalm, der die Schwälmer Tracht zu den Wildecker Herzbuben brachte und bis vor wenigen Jahren noch in seinem Geburtsort, dem Ortsteil Görzhain, gelebt hat. Beide werden weder bei Wikipedia noch seitens der Gemeinde erwähnt. Das wollten wir an dieser Stelle nachholen. (Rainer Sander)