Stadt Baunatal lässt Sprayer „machen“
BAUNATAL. Es war ein weiter Weg von Kritzeleien in Höhlen über Herzchen voller Liebe in Baumrinden geschnitzt, bis zu gesprühten Kunstwerken in der Gegenwart. Dieser Kunstbegriff gilt nicht absolut. 101.658 Fälle von Sachbeschädigungen durch Graffiti wurden 2022 in Deutschland polizeilich erfasst. In der Realität werden farbenfrohe Bilder auf Beton zunehmend bewundert.
„Oft trifft man wen, der Bilder malt, viel seltener wen, der sie bezahlt.“ So hat es Wilhelm Busch vor etwa 130 Jahren ausgedrückt. In Baunatal ist die Erkenntnis, dass es sich bei Graffiti um Kunst handeln könnte, spätestens seit gestern Nachmittag auf dem Vormarsch und zu den Künstlern haben sich auch solche gesellt, welche die Farbe bezahlen. Wilhelm Busch hätte sich gefreut. Rolf Schacht, Tina Gutsch und Gunter Koch von der SG Tennis Baunatal haben jedenfalls keinen Moment gezögert, als von den Baunataler Streetworkern die Frage kam, ob sich der Verein vorstellen kann, die optische Gestaltung der Nordfassade ihrer Tennishalle in die Hand von Künstlern aus der Graffiti-Szene und Baunataler Jugendlichen zu legen, die an einem Workshop teilnehmen.
Förderprogramm des Landkreises nach Corona genutzt
Felix Wienecke, der gemeinsam mit Lisa Freund-Obruschnik mit den Jugendlichen auf der Straße arbeitet, hat gemeinsam mit dem Baunataler Jugendlichen die Idee entwickelt und dann kam das Förderprogramm des Kreises Kassel „Aufholen nach Corona“. Das hat gepasst. Von Anfang an dabei war Dustin Schenk, ein Ur-Baunataler Künstler in der Künstlergruppe KalorCubes, die für großflächige künstlerische Gestaltungen im öffentlichen Raum steht und in Kassel für zahlreiche Flächengestaltungen und documenta-Aktionen bekannt ist.
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Gestern Nachmittag kamen schließlich eine Menge Dinge zusammen:
- In dem geförderten Workshop wurde aus einer hässlichen, beschmierten und seit 45 Jahren tristen Fassade ein Schmuckstück. „Es kann nur besser werden“, hatte Rolf Schacht im Sinn, als er für den Verein als Betreiber der Halle sein „Ok“ gab.
- Bürgermeisterin Manuela Strube war sich sicher, dass die Stadt, der die Tennishalle gehört, mit diesen und noch weiteren geplanten Projekten optisch gewinnt und gleichzeitig etwas Sinnstiftendes für Jugendliche tut.
- Gleichzeitig können durch Projekte dieser Art einige Künstlerinnen und Künstler der Sprayer-Szene aus der Illegalität in die Legalität wechseln.
216 Quadratmeter farbenfrohe Kunst
12 Betonfelder in der Größe 6 × 3 Metern, also eine Gesamtlänge von 72 Metern, beziehungsweise 216 Quadratmeter sind jetzt eine legale Gestaltungsfläche zum Sprühen. Mit Hessen Mobil wird bereits über weitere Gestaltungsbereiche an Straßen-Unterführungen gesprochen. Die Stadt Baunatal selbst hat beispielsweise schon vor Jahren eine Fläche am AquaPark freigegeben, zuletzt einen Zugang zur Tiefgarage in der Innenstadt optisch in ein Aquarium verwandelt. Wesentlicher Punkt: die künstlerische Freiheit wird geachtet, gleichzeitig aber auch der Ehrenkodex der Szene, nachdem nichts von anderen übersprüht wird.
Kinder und Jugendliche hatten gestern die Chance, eine vorbereitete Fläche zu besprühen. Stefan Gebhardt von KolorCubes hatte vorgezeichnet und erklärte mit viel Geduld, wie gesprüht wird, viel Druck, wenig Druck auf den Sprühknopf, der richtige Abstand zur Fläche, die richtige Bewegung, alles das entscheidet darüber, wie das Kunstwerk hinterher aussieht. Der studierte Künstler sagt, die Spraydose ist wie ein Musikinstrument. Man muss es spielen können und ständig trainieren, sonst entsteht nichts Schönes. Zusammen mit Sara Menzel hat er den Workshop geleitet.
Das hat etwas von Hundertwasser
Die außerdem beteiligten Künstler bewiesen, dass sie die Technik beherrschen. 3-D-Eindrücke und Farbschattierungen, außerdem filigrane Darstellungen mit einer sprühen Dose auf Beton zu projizieren, ist definitiv Kunst! Bürgermeisterin Manuela Strube fand nach Fertigstellung des Gemeinschaftswerkes der Baunataler Jugendlichen, es habe schon etwas von Hundertwasser. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Ergebnisse sind farbenfroh und die Optik der Halle ist auf jeden Fall mächtig aufgewertet. Die Stadt wird Jugendlicher und irgendwie fröhlicher – allen Krisen und Problemen zum Trotz! Wenn das Schule macht, dann könnte die Welt ein wenig schöner und farbenfroher werden. Und das ganz legal … (rs)