KASSEL. 70 Jahre Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen wurde am Dienstagabend im Ständehaus in Kassel gefeiert. Im Mittelpunkt stand der Blick auf die Entwicklung der Behindertenhilfe in Hessen von der Fürsorge zur selbstbestimmten Teilhabe.
In seiner Begrüßung sagte Friedel Kopp, Präsident der LWV-Verbandsversammlung: „Unser Verband trägt entscheidend dazu bei, dass die Hilfe suchenden Menschen in allen Teilen unseres Landes Hessen ein gleich gutes Qualitäts-Angebot für die eigene Lebensführung in Anspruch nehmen können, denn Inklusion ist kein Selbstläufer.“
Aus sehr persönlicher Sicht schlug Dr. Andreas Jürgens, Erster Beigeordneter des LWV, den Bogen von den Anfängen des LWV bis hin zur aktuellsten Entwicklung, der Einführung einer neuen Finanzierungssystematik in der Eingliederungshilfe zu Beginn dieses Monats. Er bejahte in seinem Beitrag, dass sich die Lebensrealität von Menschen mit Behinderung in den vergangenen Jahrzehnten hin zu mehr Selbstbestimmung und Teilhabe geändert habe. Jürgens betonte aber auch, dass die von der UN-Behindertenrechtskonvention geforderte aktive Mitwirkung behinderter Menschen noch längst nicht erreicht sei und folgerte: „Wir sehen: auch für die Zukunft gibt es für den LWV noch genug zu tun.“
Auf die gesellschaftliche Verantwortung des LWV verwies der Hessische Ministerpräsident Boris Rhein in seiner Festrede: „Der Landeswohlfahrtsverband Hessen ist unverzichtbar für eine menschliche, soziale und inklusive Gesellschaft in unserem Land. Seit sieben Jahrzehnten steht der Verband für Solidarität und Zusammenhalt und gibt den Menschen eine Stimme, die auf unsere Gemeinschaft und Unterstützung angewiesen sind. Immer mit dem Ziel, dass alle Menschen an unserer Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben können und niemand zurückgelassen wird. An diesem ehrenwerten Ziel arbeiten die rund 1.300 Beschäftigten jeden Tag. Im Namen der gesamten Landesregierung gratuliere ich dem Landeswohlfahrtsverband Hessen ganz herzlich zu seinem 70-jährigen Bestehen.“
Das Schlusswort sprach LWV-Landesdirektorin Susanne Selbert. „Die Veranstaltung hat uns allen deutlich vor Augen geführt, wie wesentlich der Anteil des LWV daran ist, dass Menschen mit Behinderung heute den Platz mitten in der Gesellschaft einnehmen können, den sie selbst für sich wählen.“
Musikalisch umrahmt wurde der Festakt von der Band Jazz Art Connection.
Hintergrund
Vor 70 Jahren verabschiedeten die Abgeordneten des Hessischen Landtags das „Gesetz über die Mittelstufe der Verwaltung und den Landeswohlfahrtsverband Hessen“ und schufen damit die Grundlage für den hessenweiten Kommunalverband. Die konstituierende Sitzung der LWV-Verbandsversammlung war am 8. September 1953 in Fulda. Bei der zweiten Sitzung in Frankfurt wurde die Verbandsspitze gewählt. Außerdem wurde für den Sitz von Parlament und Verwaltung das Ständehaus in Kassel bestimmt. Bis heute tagt die Verbandsversammlung, auch Hessisches Sozialparlament genannt, hier viermal im Jahr. Regionalverwaltungen wurden in Wiesbaden und Darmstadt geschaffen.
Mit seiner Gründung übernahm der Verband damals sechs Heilstätten, drei Orthopädische Kliniken, vier Sonderschulen für Taubstumme und Blinde, zwei Kinderkurheime, neun Jugendheime, zehn psychiatrische Kliniken und drei Altersheime. Verbunden war damit auch das historische Erbe der damaligen Heilanstalten, die an den Krankenmorden während der NS-Zeit beteiligt waren. Der Verband musste zudem die Jugendheime reformieren, in denen Ende der 60er-Jahre unhaltbare Zustände aufgedeckt worden waren.
Im Laufe der sieben Jahrzehnte kam es zu zum Teil einschneidenden Umbrüchen im Struktur- und Aufgabenzuschnitt, wodurch der LWV wesentlichen Anteil daran hat, dass bei der Unterstützung behinderter und benachteiligter Menschen ein Paradigmenwechsel von der Fürsorge zur gleichberechtigten Teilhabe vollzogen wurde und die Unterstützung landesweit nach gleichen Standards erfolgt.
Wesentlich für die Entwicklung der Behandlung psychisch kranker sowie geistig behinderter Menschen war 1974 der Beschluss der Verbandsversammlung zur inneren Neugliederung der Psychiatrischen Krankenhäuser. Das bedeutete, dass die Großkrankenhäuser in überschaubare, medizinisch selbstständige Einheiten aufgeteilt wurden. In dessen Folge entstanden Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie und die Enthospitalisierung geistig behinderter Menschen begann. 1989 entstanden die ersten Heilpädagogischen Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung außerhalb der Krankenhäuser.
Zu den Meilensteinen gehörte ebenfalls das Betreute Wohnen für behinderte Menschen, das der LWV 1986 mit dem Hessischen Städtetag, dem Hessischen Landkreistag und der Liga der freien Wohlfahrtspflege ins Leben rief. Es war der Startschuss für die ambulante Unterstützung. 1990 wurden 1.159 Menschen in ihren eigenen vier Wänden unterstützt, heute sind es rund 23.100. Das sind mehr als 64 Prozent der Leistungsberechtigten.
Die Gründung von Vitos in 2008, Verwaltungsreformen sowie Änderungen in der Unterstützungsstruktur führten dazu, dass Menschen mit Behinderung heute ein weitgehend selbstbestimmtes und selbstständiges Leben führen können. (lwv/pm)