GANZ DEUTSCHLAND. Wer hätte es gedacht, dass nicht etwa eine Kerosinsteuer die klimafeindliche Expansion des Luftverkehrs stoppt, sondern das banale Fehlen von Arbeitskräften. Fliegen ist ein bisschen Glückssache geworden: Das stehen in der richtigen Schlange könnte für das rechtzeitige Boarding entscheidend sein. Und weil es der richtige Moment ist, haben die Gewerkschaften heute angefangen zu streiken. Das soll auch für mehr Personal gut sein. O. k., wer‘s glaubt …
Flughäfen sind immer ziemlich international und an vielen Stellen hält es selbstverständlich auf, wenn jemand nicht deutsch spricht, aber auch, wenn jemand nicht Englisch oder wenigstens noch eine weitere Sprache beherrscht … Dort kann also nicht jeder arbeiten. Das macht es nicht leichter.
Dass die Arbeitskräfte jetzt „angeflogen“ kommen, das scheitert schon deshalb, weil es in allen Branchen inzwischen genauso oder weit schlimmer an Arbeitskräften mangelt. 45.000 Lehrer werden fehlen. Bereits jetzt gibt es 120.000 Pflegekräfte zu wenig. Bis 2060 werden es 500.000 sein. 4,5 Millionen Pflegebedürftige, das sind 5,5 Prozent der deutschen Bevölkerung (!), die nicht mehr arbeiten, werden das dann spüren. Im Handwerk fehlen jetzt schon 65.000 Mitarbeiter. Auch hier werden es mehr werden. Die Polizisten der Länder vermissen aktuell 20.000 Kolleginnen und Kollegen. Sie müssen entweder mehr arbeiten oder die Sicherheit schleifen lassen.
Zur Bundeswehr will auch niemand mehr? Allein 20.000 Führungskräfte sollten es mehr sein. Bitte nicht Putin erzählen! Erzieherinnen sind nicht nur in den Kindertagesstätten knapp, aber allein dort stehen wir bereits mit 100.000 im Soll. Bei der Rechnung schlägt die U3-Betreuung noch gar nicht voll zu Buche. Wenn die flächendeckende Ganztagsbetreuung der Schulen eingeführt wird, kommen weitere 33.000 hinzu (Quelle: Bank für Sozialwirtschaft).
Die Gastronomie sagt, dass in 80 Prozent der Betrieben Mitarbeiter fehlen. 200.000 Gasthäuser, Restaurants und Hotels gibt es in Deutschland. Wenn in 8 von 10 davon wenigstens ein Mitarbeiter zu wenig arbeitet, sind das mindestens 160.000. Es dürften aber mehr sein. Die Logistikbranche ist – wegen ihrer weißen großen Hallen – zurzeit recht unbeliebt. Das Thema dürfte sich bald erledigt haben, denn wir werden gar nicht ausreichend Lkw-Fahrer finden, die alles transportieren, was wir bestellen und transportieren müssen, wenn der Strom nicht mehr aus der Dose kommt.
Zusteller fehlen, und das, wo wir doch gleichzeitig immer mehr online bestellen. Vielleicht helfen lange Lieferzeiten dem stationären Einzelhandel wieder auf die Füße? Mist! Auch der hat niemanden mehr in Reserve zum Verkaufen. Lokführer und Busfahrer haben wir jetzt schon deutlich zu wenig und noch gar nicht damit begonnen, nachhaltig den Verkehr in den ÖPNV zu verlagern. Ausbildungsberufe sind ohnehin „Out“, studieren ist „In“. Lassen wir die Abiturienten doch Barkeeper, Postbote und Busfahrer studieren! Dann werden die Berufe vielleicht interessanter?
Die Liste könnten wir jetzt endlos fortsetzen und gleichzeitig noch eins draufsetzen: weil wir Lieferengpässe aufgrund schwieriger Produktion in China und anderswo spüren, wollen wir die Produktion aus vielen Branchen zurück nach Deutschland holen. Außerdem würden wir gerne Kraftwerke weiterbetreiben, Braunkohle länger abbauen, die Sicherheit erhöhen, neue Behörden schaffen, um neue Regeln zu kontrollieren und vielleicht sogar mit zusätzlichen Steuerfahndern Steuersünder aufspüren. Aha! Wer soll das machen?
Ich höre andauernd, wir müssten die Jobs attraktiver machen und besser bezahlen. Ich finde, das hat etwas wunderbar Naives. Wenn das alle versuchen, haben zwar die meisten von uns mehr Geld und schönere Arbeitsplätze, es ändert allerdings nichts daran, dass uns insgesamt aktuell schon 1, 2 oder 3 Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern fehlen. Und als sicher darf gelten: Wenn wir für Erzieherinnen und Pflegekräften eine Schippe Lohn drauflegen, dann werden Industrie und Handwerk zwei Schippen drauflegen. Im Gegensatz zu Kindergärten und Pflegeheimen oder Kliniken, können diese ihre höheren Kosten an die Kunden weitergeben. Bei Wiedereinführung der Kindergartenbeiträge, mehr Selbstbeteiligung beim Arzt oder in der Klinik und teureren Pflegeentgelten, würde für uns der Spaß genauso vergehen, wie bei teureren Tickets für den Flug nach Malle. Um nichts weiter geht es, wenn heute die Arbeit „niedergelegt“ wird. Schon bei diesem Satz muss ich schmunzeln …
Schöne Märchen, dass wir die verbliebenen Arbeitslosen bloß besser ausbilden müssen, funktionieren längst nicht mehr, denn einerseits hat der liebe Gott nicht alle Menschen gleichermaßen ausgestattet und es gibt tatsächlich mehr als eine Handvoll Menschen, die auch ohne Arbeit ganz gut klarkommen. Auch das werden wir hinnehmen müssen. Ausländische Fachkräfte zu locken, gilt zunehmend als konfliktträchtig, aber zum Glück brauchen andere Länder ihre Fachkräfte zukünftig genauso wie wir. Die Quelle in Osteuropa versiegt allmählich. Wenn viele von uns gleichzeitig auch noch früher in Rente gehen und die Wochenarbeitszeit reduzieren wollen, dann wird‘s erst richtig schön.
Ich ahne: es gibt nicht für alles im Leben eine Lösung und wir könnten uns damit abfinden müssen, dass manches eben nicht mehr funktioniert. Aber wenn wir die Gehälter erhöhen und alles teurer machen, werden wir zügig aber auch gar nicht mehr alles haben wollen. Dann geht’s vielleicht wieder …
Ihr
Rainer Sander
4 Kommentare
Wie immer, herrlich geschrieben und auf den Punkt gebracht.
Es wird noch spannend. Traurig für die, die noch in die Schule gehen und Ihren weg finden müssen.
Wir alten sind auf der Zielgraden, da wirds vielleicht gerade noch so gut gehen, bis der Deckel zu geht.
Aber für die jungen? Kommen schwere Zeiten befürchte ich.
Wer im Vergleich zu anderen europäischen Nationen, wie Schweiz, Dänemark und Gossbritannien viel weniger im Bildungssektor investiert, darf sich nicht wundern, dass er folglich auf dem Arbeitsmarkt auch mehr nicht ausreichend qualifizierte Fachkräfte in allen Branchen erhält. Nach einem OECD-Bericht aus 2017 lagen die Durchschnittsinvestitionen für Bildung bei den meisten europäischen Industrienationen bei immerhin 12 bis 14 Prozent des BSP, während Deutschland weit abgeschlagen nur ca. 9 Prozent des BSP Aufwandes, traurig aber wahr. Die einst stolze Exportnation und ihre politische Führungselite erkennt offensichtlich nicht die Bedeutung und den Wert von der Vermittlung von Wissen, der extentiell für das Bestehen im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf ist. Folglich fehlt es oft auch an gut ausgebildete Personal in allen Ebenen von Handel, Wirtschaft, Polizei, Bw und Verwaltung…Logisch oder?
Das Niveau ist in vielen Berufen bereits auf dem absteigenden Ast. Man senkt die Anforderungen, nimmt, was man noch bekommen kann. So mancher macht unerwartet Karriere, frei nach dem Motto: Unter den Blinden ist der Einäugige der König.
Ja,gar nicht mal so schlecht was da passiert.
Die Arbeitgeber saßen vor Jahren auf ihrem hohen Ross und jetzt sitzt der Arbeitnehmer höher.
Einfach köstlich.
Jetzt bestimmt der AN den Preis und wenn der AG nicht will hat er Pech gehabt.
Ein Anderer wird den Preis schon zahlen.
Das Land und die Branche ist dabei egal.
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