TREYSA. Angstzustände, Suchterkrankungen, Depressionen – das sind einige der psychischen Erkrankungen, von denen jeder Dritte im Laufe seines Lebens betroffen ist. Es sind seelische Erkrankungen mit schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen, ihre Angehörigen und unsere Gesellschaft insgesamt. Anlässlich der Woche der seelischen Gesundheit stellt Hephata Ulla Siebert und ihr bewegtes Leben vor.
Es waren die ständigen Angstzustände, die Ulla Siebert zur Alkoholikerin machten. „Ich wollte einfach nur einmal in Ruhe einschlafen“, erklärt die 65-Jährige, wie sie durch regelmäßigen Alkoholkonsum schrittweise in die Sucht gerutscht ist. Heute ist sie seit 24 Jahren trocken. So lange lebt sie schon im Marta-Mertz-Haus, einer Einrichtung der Sozialen Rehabilitation innerhalb der Hephata Diakonie. Die therapeutische und pädagogische Unterstützung gibt Ulla Siebert und ihren Mitbewohner*innen Halt und hält sie fern vom Alkohol.
Die Jalousien sind unten, es ist stockdunkel. Ulla Siebert sitzt auf ihrem Bett, die Beine presst sie mit ihren Armen fest an ihren Oberkörper. Sie zittert seit Minuten, vielleicht schon einer Stunde. Ihre Muskeln spannt sie an und ihre Gedanken wollen sie einfach nicht zur Ruhe kommenlassen. An Schlaf ist in dieser Zeit nicht zu denken.
So schildert Ulla Siebert ihre Abende, bevor sie das erste Mal zur Flasche griff. Angst- und Panikzustände begleiten Ulla Siebert seit ihrer Kindheit. Hinzu kam noch ein starker Juckreiz, der sich über den gesamten Körper ausgebreitet hatte, die Folge einer Neurodermitis, die seit dem Babyalter vorhanden war. Sie kommt aus einer gutbürgerlichen Familie, macht ihren Schulabschluss und absolviert eine Ausbildung zur Industriekauffrau. Und dennoch, wenn Ulla Siebert abends alleine in ihrer Wohnung ist, überkommen sie ihre Ängste, etwas nicht zu schaffen. „So schlimm, dass ich nicht schlafen konnte. Der Schlafmangel sorgte dann dafür, dass ich mich an der Arbeit kaum konzentrieren konnte“, erinnert sie sich.
Der Einstieg in einen Teufelskreis
Von einem Arbeitskollegen, dem sie von ihren Ängsten und Überforderungsgefühlen erzählte, erhielt sie den Rat, doch mal einen Schnaps zur Beruhigung zu trinken. „Und endlich: ich bin problemlos eingeschlafen“, sagt sie. Dass das der Anfang eines über Jahre andauernden Teufelskreises werden würde, ahnte sie damals noch nicht. Es dauerte nicht lange, bis Ulla Siebert auch tagsüber immer mehr trank und der soziale Abstieg folgte. Ihr Alkoholkonsum blieb in ihrem Umfeld nicht länger unbemerkt, sie verlor ihre Arbeit, weil sie häufig zu spät kam.
Und was danach kommt, ist eine typische Geschichte, wie sie viele Suchterkrankte erleben: Gerade einmal 25 Jahre alt ist Ulla Siebert, als sie ihre erste Langzeittherapie macht. Davor hatte sie schon ungezählte Entgiftungsbehandlungen hinter sich gebracht. Doch schon kurz nach Abschluss der ersten Langzeittherapie, „hatte ich wieder die Flasche am Hals“, erzählt Ulla Siebert. Ein zweiter Versuch: Sie begibt sich erneut in eine stationäre Entwöhnungsbehandlung, die 16 Wochen dauert. Und diese Therapie zeigt Wirkung – viereinhalb Jahre schafft sie es, nicht zu trinken. Doch dann, im Frühjahr 1997, überkommen sie wieder ihre Ängste. Es dauert nicht lange, da liegt Ulla Siebert wieder volltrunken in ihrem Bett. Sie reagiert schnell, bemüht sich erneut um einen Therapieplatz und bekommt erstmals von dem Wohnangebot für suchtkranke Menschen der Hephata Diakonie in Schwalmstadt-Treysa zu hören.
Nur langfristige Unterstützung wird wirksam helfen
Mit einem damaligen Therapeuten besucht Ulla Siebert schließlich das Marta-Mertz-Haus. „Ich wusste, dass ich es in meiner Wohnung, alleine, nicht schaffen würde.“, erinnert sich Ulla Siebert. Denn nach vielen unterschiedlichen ambulanten Hilfen war für sie klar: Nur ein auf langfristige Unterstützung angelegtes Wohnangebot kann dabei helfen, ein Lebenskonzept ohne Alkoholkonsum zu entwickeln und dieses auch durchzuhalten. Sie hatte Glück, und konnte schnell in ein eigenes Zimmer des Marta-Mertz-Hauses einziehen. Dass sie heute so offen über ihre Suchterkrankung sprechen kann, ist unter anderem dem qualifizierten sozialtherapeutischen und pädagogischen Angebot sowie der Einbindung in das soziale Miteinander im Marta-Mertz-Haus zu verdanken. Für Ulla Siebert ist dieser besondere Ort seit 24 Jahren ihr Zuhause.
Im Marta-Mertz-Haus werden Menschen mit einer Suchterkrankung unterstützt, ein abstinentes Leben zu führen. Seit Ulla Sieberts Einzug 1997 ist sie abstinent. Geholfen haben ihr dabei auch die Angebote der Hephata-Werkstätten. Nach Einzug in das Wohnhaus besteht zunächst die Möglichkeit an der Beschäftigungstherapie teil zu nehmen und dabei Unterstützung zur weiteren Orientierung zu erfahren. Anschließend können die Klient*innen, wenn gewünscht, ihre Leistungsfähigkeit in einer Arbeitsgruppe in einer der Hephata-Werkstätten weiterentwickeln, bis sie im Idealfall sogar wieder einen Job auf dem so genannten ersten Arbeitsmarkt finden. Dabei werden sie stets von dem Fachpersonal im Marta-Mertz-Haus gefördert.
Ulla Siebert fand dank dieser Unterstützung zügig eine Anstellung als Büroassistentin in einer Druckerei in Schwalmstadt, wo sie mehr als neun Jahre beschäftigt war. In den Folgejahren arbeitete sie als Bürohelferin in der Alsfelder Bio-Metzgerei der Hephata Diakonie und in der Öffentlichkeitsarbeit der Hephata Diakonie. Bis zu ihrem Renteneintritt im nächsten Jahr wird sie in der Für Uns-Manufaktur in Treysa arbeiten. „Ich habe immer gearbeitet. Das ist wichtig für mich, um trocken zu bleiben“, sagt sie.
Neben der Arbeit tragen auch die Begegnungen und wöchentlichen Gruppengespräche im Haus dazu bei, ein gesundes Leben zu führen. Sie sind zu einem wesentlichen Bestandteil in Ulla Sieberts Leben geworden, genau wie die Sozialtherapeutische Begleitung. Tag und Nacht an sieben Tagen in der Woche stehen engagierte Mitarbeiter*innen für ein Gespräch zur Verfügung, erklärt Ulla Siebert.
Engagement für Mitbewohnende und Kirchengemeinde
Neben weiteren Angeboten wie Gedächtnis- und Konzentrationstraining, kommt der Zielsetzung nach sozialer Integration eine besondere Bedeutung zu. Ulla Siebert hat sich ausgezeichnet in das kirchliche und kulturelle Leben der Stadt Treysa eingefunden. Seit Jahren ist sie im Gemeindevorstand der Hephata-Kirchengemeinde. Zusätzlich bekleidet sie das Amt als Einrichtungsbeirätin der Wohngruppen des Marta-Mertz-Hauses, von denen es acht für insgesamt 40 Menschen gibt.
Ulla Siebert lebt auf einer Etage mit drei weiteren Bewohnenden, von denen jeder ein eigenes Zimmer hat. Dort können die Bewohnenden ihren Alltag weitestgehend selbst strukturieren und gestalten. Dabei bekommen sie stets Unterstützung durch die Sozialpädagoginnen. So gelingt es, dass die Bewohnenden vom Haushalt, der Arbeit in den Hephata-Werkstätten oder auf Außenarbeitsplätzen bis hin zur Freizeitgestaltung ein selbstbestimmtes, abstinentes Leben führen können. „Das gesamte Angebot und die Unterstützung halten mich davon fern, zu trinken – ohne das Marta-Mertz-Haus hätte ich das nie geschafft“, sagt Ulla Siebert. Müsste sie ihr Zuhause verlassen und wieder allein, ohne Nähe zu ihren Mitbewohner*innen leben – so sagt sie – hätte sie wieder „die Flasche am Hals“. Alles, was sie im Haus habe, brauche sie um trocken zu bleiben. „Das Marta-Mertz-Haus war und ist meine Rettung.“
Hintergund
Das Marta-Mertz-Haus der Hephata Diakonie: Seit Jahrzehnten ein Zuhause für Menschen mit Suchterkrankungen
Das Marta-Mertz-Haus bewährt sich seit über 30 Jahren in der sozialen und beruflichen Rehabilitation alkohol- und medikamentenabhängiger Männer und Frauen. Die Einrichtung mit ihren heute 40 Plätzen liegt in einem ruhigen Wohngebiet und dient als Nachsorgeeinrichtung für diejenigen, die zuvor eine Therapie in einer Fachklinik erfolgreich abgeschlossen haben. Bewohnende müssen bei Einzug abstinent sein. Für einen Platz in einer der Betreuten Wohngruppen des Marta-Mertz-Hauses müssen Interessierte einen Antrag beim Landeswohlfahrtsverband (LWV) stellen. Mit der Änderung des Bundesteilhabegesetzes 2020 müssen die Bewohnenden selbst für die Verpflegung und Miete in der Wohneinrichtung aufkommen, sofern sie keine Grundsicherung erhalten. Die Fachleistungen werden weiter vom LWV getragen. Sofern der erste Antrag genehmigt wurde, ist eine Finanzierung für neun Monate gesichert. Danach müssen die Bewohnenden alle zwei Jahre einen neuen Antrag stellen, sofern ein weiterer Aufenthalt notwendig und von den Bewohnenden gewünscht ist.
Landesarbeitsgemeinschaft für Suchthilfe: „Unverzichtbares Angebot“
In einem neuen Positionspapier weist die Evangelische Landesarbeitsgemeinschaft für Suchthilfe (ELAS) die Politik auf die Relevanz der sogenannten Besonderen Wohnformen und Langzeittherapien für Menschen mit Suchterkrankungen hin. Zu diesen Angeboten zählt auch das Marta-Mertz-Haus in Treysa. „Die besondere Wohnform ist ein zur Stabilisierung von suchtkranken Klientinnen unverzichtbares Angebot. Es darf nicht der Eindruck entstehen oder bei Kosten- und Leistungsträgern die Haltung vorherrschen, dass alle Hilfen ambulant erbracht werden können“, heißt es in dem Papier. Denn letztlich sei die Gefahr groß, dass bei unzureichender Unterstützung in ambulanten Angeboten die Betreuungsverhältnisse eskalieren und Klientinnen letztlich in größerer Zahl auch Pflege und Betreuung in geschützten Einrichtungen erfahren müssten. „Ambulante Betreuungsangebote müssen hinsichtlich der vereinbarten Hilfebedarfe ausschließlich am Bedarf der Klient*innen orientiert sein. Dies ist in jedem Fall eine Einzelfallentscheidung und kann nicht generalisiert werden“, betont die ELAS. Weiterhin müssten auch die Werkstätten in dem Gesamtprozess der Rehabilitation suchtkranker Menschen als unverzichtbarer Bestandteil erhalten bleiben. „Menschen, die Arbeit als niedrigschwelliges Angebot benötigen, können nicht immer auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten. Gerade im Bereich der sozialen Rehabilitation sind lange Vorarbeiten nötig, die ein Ineinandergreifen der Wohn- und Arbeitsangebote erfordern,“ erklärt ELAS-Vorstandsmitglied Michael Tietze. (wal)