„Jetzt geht’s aber wirklich los?“ Oder doch nicht?
MELSUNGEN. Nicht nur keine neue Klinik in Melsungen, sondern gar kein Krankenhaus in der ehemaligen Kreisstadt, so könnte das Szenario aussehen, das hinter den Kulissen längst entschieden sein könnte.
Mit dieser steilen aber in der Plausibilität gut nachvollziehbaren These erstaunte Jürgen Kauffmann, Erster Kreisbeigeordneter den Kreistag Schwalm-Eder heute in der Berglandhalle in Körle. Dass man sich gerade vor den Toren Melsungens traf, passte – irgendwie… Was ist gerade los?
Ministerpräsident Volker Bouffier als Statist für „Schmierenkomödie“?
Hat der Klinikkonzern Asklepios mit gezinkten Karten gespielt und wollte – entgegen aller Planungen, Verträgen und bereits gezahlten Zuschüssen – gar kein Krankenhaus bauen? Jürgen Kauffmann sagt dazu klar „Ja“ und trat heute Morgen in der Kreistagssitzung die Beweisführung an. Asklepios habe sogar Ministerpräsident Volker Bouffier als Statisten für einen Schmierenkomödie vor fast genau zwei Jahren, am 4. Oktober 2018, aus Wiesbaden einfliegen lassen, um zum Schein eine Grundsteinlegung zu zelebrieren, obwohl zu diesem Zeitpunkt längst entschieden war, gar nicht bauen zu wollen. Wenn das so wäre, allerdings ein „wirklich starkes Stück“.
Im Jahr 2006 – bei Übernahme der Kliniken durch Asklepios – galt der damalige Krankenhausentwicklungsplan und aus ihm leiteten sich die vertraglichen Vereinbarungen zwischen dem Kreis und Asklepios ab, so Jürgen Kaufmann. Der Kreis hat gesetzlich immer den Versorgungsauftrag und diesen an den Betreiber der Kliniken (Asklepios) weitergegeben. Damit sind die Verhältnisse seit dem 19. Dezember 2006 juristisch immerhin klar.
Krankenhausplan: Chirurgie, Innere Medizin, Geriatrie, Psychiatrie, Intensivmedizin
Im Juni 2020 wurde der aktuelle Krankenhausplan des Landes Hessen beschlossen. Danach ist das Klinikum Melsungen, so Kaufmann, ein Allgemeinkrankenhaus mit den Fachgebieten Chirurgie, Innere Medizin, Geriatrie, Psychiatrie sowie intensivmedizinischer Versorgung. „Zur Konkretisierung des Versorgungsauftrages ergehen durch das Hessische Ministerium für Soziales und Integration sogenannte Feststellungsbescheide.“ Für die Asklepios Klinik Schwalmstadt/Melsungen, die im Sozialministerium als eine Klinik mit zwei Standorten geführt wird, habe nach wie vor der Feststellungsbescheid vom 10.02.2014 Gültigkeit. Neben der Einrichtung einer Fachabteilung für Psychiatrie und Psychotherapie mit 40 Planbetten am Klinikum Melsungen, die letztlich Anfang September 2020 vollzogen wurde, wird in dem Bescheid auch festgestellt, dass das Krankenhaus mit seinen beiden Standorten an der Notfallversorgung teilnimmt und damit unter anderem folgende fachlichen und strukturellen Anforderungen erfüllen muss:
- Eine-Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft an allen Tagen sowie
- die Vorhaltung intensivmedizinischer, internistischer und chirurgischer Behandlungskapazitäten, die vornehmlich interdisziplinär betrieben werden soll.
Notfallversorgung nicht mehr gegeben
Aus Kreis-Sicht stellt sich die Situation aktuell wie folgt dar: während die Erfüllung des Versorgungsauftrages am sanierten Standort in Schwalmstadt-Ziegenhain für Kaufmann außer Frage steht, mehren sich seit Mai/Juni 2020 am Standort Melsungen die Hinweise, dass das Leistungsspektrum – insbesondere in der chirurgischen Abteilung – sukzessive zurückgefahren wird und eine Teilnahme an der Notfallversorgung faktisch nicht mehr gegeben ist.
Der geplante Neubau der Klinik sei schon kurz nach der Grundsteinlegung am 5. Oktober 2018 faktisch zum Erliegen gekommen und der Bauaufsicht sei zwischenzeitlich sogar ein Bauantrag auf Verfüllung der Baugrube für die nächsten Wochen angekündigt wurde, hat Kaufmann recherchiert. Das unterstreiche den Eindruck und mache deutlich, dass die Sorgen der Bevölkerung in und um den Melsunger Krankenhausstandort mehr als begründet sind.
Sanierung statt Neubau?
In einem Gespräch am 1. Juli 2020 habe der Kreis gemeinsam mit der Stadt Melsungen Frau Dr. Federwisch klargemacht, dass Verpflichtungen für die städtebauliche Entwicklung eingegangen wurden und die zeitnahe Vorlage eines zukunftsfähigen Konzeptes für den Standort Melsungen angemahnt.
Parallel dazu haben Landrat Becker und Jürgen Kaufmann – in Umsetzung der Aufträge aus den Dringlichkeitsanträgen der CDU-Kreistagsfraktion sowie der Kreistagsfraktion DIE LINKE – Herrn Ministerpräsidenten Bouffier und Herrn Staatsminister Klose mit Schreiben vom 8. Juli 2020 gebeten, die Entscheidungen zur Sicherung des Klinikstandortes Melsungen voranzutreiben und den Schwalm-Eder-Kreis unter Berücksichtigung der gesetzlichen Regelungen im Krankenhausgesetz umfassend in alle Überlegungen einzubinden. Derweil hat Asklepios höhere Fördermittel erbeten, was das Ministerium im Hinblick auf die aktuelle Vorderkulisse ablehnen musste. Bestätigt wurde auch, dass die Sanierung des Bestandsgebäudes statt eines Neubaus diskutiert wurde, eine abschließende Entscheidung für oder gegen den Neubau jedoch noch nicht getroffen wurde, die Kalkulation der Sanierungskosten noch einer umfassenden Prüfung bedarf. Kommenden Donnerstag (24. September) wird ein weiteres Gespräch mit dem Ministerium stattfinden.
Anwaltskanzlei beauftragt
Da keine belastbaren Informationen über das tatsächliche Leistungsspektrum erteilt wurden, zu denen Asklepios jedoch vertraglich verpflichtet ist, hat der Kreisausschuss nach Beschluss vom 17. August 2020 die Fachanwaltskanzlei Brogli, Schade & Partner in Wiesbaden beauftragt, in einem ersten Schritt den Asklepios Konzern unter Fristsetzung aufzufordern mitzuteilen, welche medizinischen, insbesondere chirurgischen Leistungen gegenwärtig am Standort Melsungen vorgehalten werden und wie sich die Fallzahlen seit dem Jahr 2018 in den Fachabteilungen entwickelt haben. Aussagen zu Investitionen und Verletzungen der Informationspflicht sowie behördlichen Verpflichtungen wurden ebenfalls eingefordert.
Am letzten Freitagmittag kam die Antwort der von Asklepios beauftragten Rechtsanwaltskanzlei mit, so Kaufmann dürftigen Aussagen. Zur Sicherstellung behördlicher Verpflichtungen und zum Verstoß gegen die Informationspflichten werden keine Aussagen getroffen. Auch ein von Asklepios bei der Hessen Agentur in Auftrag gegebenes Gutachten zu medizinischen – insbesondere chirurgischen – Leistungen am Standort Melsungen wurde nicht vorgelegt, sondern hat nur darauf verwiesen, dass dieses Gutachten „eine Vorhaltung einer chirurgischen Abteilung zur flächendeckenden Versorgung aus krankenhausplanerischer Sicht im Ergebnis verneint.“ Allerdings möchte Asklepios – in Abstimmung mit dem HMSI – versuchen, eine chirurgische Versorgung in Form einer Belegabteilung aufrecht zu erhalten, was in Widerspruch zur Aussage von Herrn Dr. Höftberger am 1. Juli 2020 steht, wonach es am Standort Melsungen keine Chirurgie mehr geben soll.
Widerspruch zur Sicherstellung der Notfallversorgung
Das Gutachten kommt außerdem zu den Ergebnissen, dass die Chirurgie in Melsungen entbehrlich ist und – auf Basis von Routenplanerauswertungen – dass die Notfallversorgung nicht gefährdet sei, da weniger als 5000 Menschen eine Fahrzeit von 30 Minuten und mehr benötigen würden. Der GKV-Kliniksimulator geht im Gegensatz dazu von 7000 Menschen aus, die eine Fahrzeit von mehr als 30 Minuten benötigen. Damit sei die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet.
Jürgen Kaufmann empfindet es als sehr befremdlich, dass das Ministerium seit über zwei Jahren im Geheimen mit Asklepios über den Verzicht auf die Chirurgie und damit über den Verzicht auf den Neubau sowie eine völlig andere Ausrichtung des Restklinikums verhandelt und dabei immer noch von einer vorhandenen chirurgischen Abteilung und einer 24/7-Notfallversorgung ausgeht. Der Schwalm-Eder-Kreis als zuständige Körperschaft nach dem Hessischen Krankenhausgesetz wurde dabei völlig außen vorgehalten.
Szenario-Analyse zur Schließung der Chirurgie war vor Grundsteinlegung bekannt
Besonders pikant ist für Jürgen Kaufmann die Auskunft der HessenAgentur, dass sie von der Asklepios Schwalm-Eder-Kliniken GmbH bereits am 24. Mai 2018 – mit Zustimmung des HMSI – beauftragt wurde eine Szenarioanalyse für eine mögliche Schließung der Chirurgischen Abteilung am Klinikum Melsungen zu erarbeiten. Diese Analyse lag am 11. September 2018 vor, drei Wochen vor der Grundsteinlegung mit Ministerpräsident Volker Bouffier. Dennoch habe Asklepios weiter behauptet – und sogar damit geworben – den Neubau wie geplant zu errichten.
Das im Landkreis Goslar ganz ähnliche Probleme in den Medien dargestellt werden und dieser Landkreis Asklepios bereits verklagt hat, ist für ihn ein Kennzeichen, dass der Klinikkonzern dies als Strategie entwickelt habe.
Für Böhme-Gingold (LINKE) ist Entzug des Versorgungsauftrags ein Thema
Jochen Böhme-Gingold (LINKE) hat Bericht sprachlos gemacht: „so schlimm hatte ich mir das nicht vorgestellt“. Asklepios hatte einst sogar versprochen das Klinikum weiterzuentwickeln. Bereiche wie Rheuma, Kardiologie, Orthopädie, Urologie oder Gefäßchirurgie hatte man genannt. Skepsis habe die LINKE schon immer geäußert aber außer ihr war nur die CDU gegen den Verkauf. In Goslar, so habe er dort erfahren, werde bereits erwogen, Asklepios den Versorgungsauftrag zu entziehen. In Parchim habe der Konzern die Kinderstation wegen Ärztemangel geschlossen aber selbst die Ärzte gekündigt und konsequent Bewerbungen abgewiesen. Solange hier das Profitstreben im Vordergrund stünde, solle der Kreistag die Rekommunalisierung prüfen.
Christa Strohm (FWG) empfindet die Notfallversorgung als Kernpunkt und spricht die Qualitätssicherung an. Das Land Hessen sehe zu viele Kliniken im Land, aber die Klinik Melsungen stehe schließlich noch im Plan. Das Land Hessen habe außerdem schon 15 Millionen Euro für den Klinikum bezahlt? Wo ist wohl das Geld geblieben?
Nils Weigand (FDP): keine Rekommunalisierung – Kliniken sind defizitär
Nils Weigand (FDP) zitiert das Bauschild am Klinikum: „Jetzt geht’s los steht dort in großen Lettern. „Das ist Veralberung der Bevölkerung.“ Kritik äußerte er an Böhme-Gingolds Aussagen zum Profitstreben. Kliniken in Deutschland hätten durch Freihalten von Intensivbetten 2020 hohe Verluste geschrieben. Die Vergütung von Leistungen sei zu schlecht das Land Hessen fördere Investitionen nur zu 50 Prozent, weshalb viele Maßnahmen unterbleiben. Patienten orientierten sich nach Kassel oder Marburg. Bei Übertragung waren beide Kliniken defizitär und drohten dem Kreis Spielräume zu rauben. An dieser Situation habe sich offensichtlich auch nach Schließung von Homberg nichts geändert. Bei ganz Schlussfolgerung: „Man kann klagen oder die richtige Schlüsse ziehen. Die FDP unterstütze die Initiativen zur Notfallversorgung und notfalls auch den Klageweg. Eine Rekommunalisierung komme für die FDP nicht infrage, wohl aber beispielsweise ein Portalklinikum in Zusammenarbeit mit einer Kasseler Klinik. Mit Taschenspielertricks habe Asklepios Vertrauen verspielt.
Dorothea Pampuch (B90/GRÜNE) sieht bewahrheitet, was damals an Kritik geäußert wurde. Hohe Arbeitsbelastung und schlechte Bezahlung kennzeichneten die Arbeitssituation. Das Profitstreben war über Jahre zu sehen. Engagierte Mitarbeiter hätten die Klink verlassen, die bauliche Substanz komme herunter.
Auch Renate Glaser (AfD) kann sich die Rückkehr in die Verantwortung der Kommune nicht vorstellen.
Bernhard Lanzenberger (CDU): wohin am Wochenende bei Schnittverletzungen?
Bernhard Lanzenberger (CDU) stellt fest, es gäbe wohl Menschen, die immer Recht hätten: „Wir wollten das nicht, hatten aber genau das immer geahnt und damals den Vertrag mit Asklepios abgelehnt.“ Wo geht man denn hin, wenn man sich in Wochenende in den Finger schneidet? Zum Hausarzt kann man auch nicht mehr gehen. „Kann es ein, dass ein System dahintersteckt, wenn die Grundversorgung nicht mehr schergestellt ist“ würde er gerne wissen. „Kann es sein, dass Ärzte versetzt, die Klink heruntergefahren und ein schlechter Ruf selbst provoziert wird? Eine Firma müsse betriebswirtschaftlich denken, aber die Gesundheit der Menschen ist ein hohes Gut und der wichtigste Punkt der Daseinsversorung. Warum handelt Kreis erst jetzt? Das Thema ist doch nicht neu?
Günter Rudolph (SPD): fühle mich als Landtagsabgeordneter hintergangen!
Günter Rudolph (SPD) kontert mit Glückwünschen alle die, die schon immer wussten, wie es ausgeht. In der damaligen Ablehnung der CDU sei von mangelnder Seriosität bei Asklepios damals gar keine Rede. Die CDU habe das damals nur zum Wahlkampfthema gemacht. Vom Land möchte er jetzt wissen, ob es am Standort Melsungen festhält und wie die Grundversorgung sichergestellt wird: „Ich fühle mich als Landtagsabgeordneter hintergangen!“
Die Abgeordneten waren der Meinung, dass damit Bericht erfüllt sei, der Antrag der Fraktion die LINKE, der auch die Ricoh Modernisierung einschließt, wurde einstimmig in den Kreisausschuss verwiesen. (rs)
2 Kommentare
Oder vor dem Verkauf die warnungen etas ernster nehmen.
Asklepios über Nacht zwangsenteignen.
Kommentare wurden geschlossen.