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SCHWALMSTADT. Wortspiele sind „in“ in Schwalmstadt, geht es um das Stadtmarketing. Zum Beispiel „AreA49“ für das Gewerbegebiet am zukünftigen Autobahnanschluss, #entdeckeschwalmstadt für eine Social-Media-Kampagne, „Augenweide“ (?) für das Rückhaltebecken und jetzt auch Akropolis für die Oberstadt? Ich würde gerne „Stadtmarkething“ hinzufügen.
Wenn die Germanen – von bunten Durchmischungen abgesehen – im Wesentlichen unsere Vorfahren, etwas zu besprechen hatten, dann versammelten sie sich zum Thing. Das war zugleich Volks- und Gerichtsversammlung und wurde immer im Freien abgehalten. Wer lange diskutieren wollte, musste mit Sonne oder Regen klarkommen. Dabei half den Germanen jede Menge Alkohol. Man stritt und redete – nach Tacitus – mit freier Zunge. Wichtig: Beschlüsse wurden aber erst im ausgenüchterten Zustand – am nächsten Tag – getroffen!
Mit freier Zunge streiten, das tun die Stadtverordneten der größten Stadt im Schwalm-Eder-Kreis heute noch. Und manchmal werden Beschlüsse auch erst später gefasst, wenn sich Ernüchterung breit gemacht hat. Teils geplant, teils zufällig, teils versteckt in Anträgen und Anfragen, beschäftigten sich die Stadtverordneten von Schwalmstadt am Donnerstagabend mit dem Stadtmarketing. Und da könnte gerade eine Menge auf sie zukommen. Immerhin beteiligten die Germanen immer den ganzen Stamm an der Diskussion. Das ist in Schwalmstadt eher anders.
Wer in die – 50 Jahre (im Jahr 2020) junge – Stadtgeschichte zurückblickt, findet neben dem fortwährenden Streit um die angemessene Wahrung der Bedeutung, Repräsentanz und Gewichtung von Ziegenhain zu Treysa ziemlich wenig Bahnbrechendes oder Konstruktives für die Stadtentwicklung. Die Konfirmation, die Wasserfestung in Ziegenhain und die Totenkirche in Treysa sind Geschenke aus der Vergangenheit, genauso wie Salatkirmes, Scherz- und Michaelismarkt. Das hat alles seine Wurzeln im Mittelalter.
Alle hatten immer die Chance etwas zu entwickeln, Alleinstellungsmerkmale zu finden, visionär zu denken. Das ist im Schwälmer Erbgut vermutlich nicht so stark angelegt. Die „Hinterher-bin-ich-schlauer-“ „Du-bist-Schuld-“ oder „Das-hätte-ja-mal-jemand-machen-können-“ Gene haben erkennbar mehr Einfluss auf die Gegenwart des Schwalmstädter Gemeinsinns. So richtig Ideenreich kommt gerade niemand daher und ein Gesamtkonzept, wie es Thomas Kölle gerne vom Bürgermeister präsentiert bekäme, wäre schon seit Jahren eine tolle Sache. Jetzt liegt ein ganzes Maßnahmenbündel auf dem Tisch, aber da muss man tatsächlich erst mal drüber schlafen… Vielleicht nicht nur eine Nacht…
Dinopark und Nutzung des Hochwasser-Rückhaltebeckens? Mutig allemal! AreA49? Hat Charme, wenn sich denn Firmen auch mit diesem ironischen Wortspiel identifizieren können und dort bauen. Und alles nutzt nix, wenn die Stadt nicht ohne Probleme Eigentümer der Grundstücke werden kann. Die Autobahn kommt aber auch so wahnsinnig plötzlich. Mit der hätte doch niemand gerechnet!
Wohnmobilstellplatz mit Glamour im Sumpf? Das macht richtig Arbeit, alle zu überzeugen! Hut ab, vor so viel Mut! Entdecke Schwalmstadt? Die Stadt hat 40.000 Euro ausgegeben für Videofilme und tatsächlich hat die Maßnahme 260 Follower bei Instagram. Die etwa halb so große Stadt Gudensberg hat in der Hälfte der Zeit und für rund 150 Euro externe Dienstleistung 180 Follower generiert. Ohne jede Werbemaßnahme. Ein echtes Kopf-an-Kopf-Rennen.
Gründerzentrum größer, Stadtmarketing größer, mehr Kultur, mehr Networking, Co-Working und das Rotkäppchen auf der Ampel. Dazu die Konfirmationsstadt und die Festung im europäischen Verbund. Und dann noch die grandiose Wiederbelebung der Oberstadt, der Akropolis von Schwalmstadt.
Dieser Vergleich der Grünen hat Charme. Allerdings fällt beim Betrachten der Akropolis auf, dass es sich dabei eben nicht um eine wiederbelebte Oberstadt handelt, sondern um die – neben dem Kolosseum – vielleicht berühmteste Ruine Europas. Da lebt außer der Erinnerung an bessere Zeiten gar nichts. Die echte Akropolis lässt sich aber einfach besser vermarkten als die Totenkirche. Ansonsten haben die Griechen und Athener mit dem Wirtschaften an sich in jüngster Zeit auch wenig glücklich agiert…
Wenn Verschwörungstheoretiker demnächst auf dem Gelände an der Autobahn nach Geheimnissen suchen, werden sie auf kirchlich-reformatorische Traditionen und eine landgräfliche Wasserfestung treffen, während sich mittendrin Dino-Modelle tummeln und ein Luxus-Campingplatz mobile High-Society nach Schwalmstadt lockt. Und wenn dann noch das Pantheon hoch über der Stadt thront, dann wissen alle, dass die Schwälmstädter mit dem Mut der Verzweiflung jede Menge Humor entwickelt haben!
Wenn jetzt – getreu dem germanischen Thing-Prinzip – alle wieder nüchtern sind vom Rausch der Ideen und feststellen, dass bisher verdammt wenig sicher ist, dann werden sie entscheiden müssen zwischen Mut und Verzweiflung. Das könnte ein geniales Gemisch sein, aber auch ein katastrophaler Flop werden. Da keine besseren Ideen auf dem Tisch liegen, können wir ja mal spekulieren, was in den nächsten Wochen so passiert. Setzt sich die Angst durch, der Mut oder der Wahnsinn? Im letzteren Falle: Auf eines kann sich Schwalmstadt seit 118 Jahren verlassen: Die Kompetenz der psychiatrischen, neurologischen und heilpädagogischen Versorgung durch Hephata. Die kriegen alles wieder hin und dann kann eigentlich nichts passieren!
Ihr
Rainer Sander
Zum Artikel über die Stadtverordnetenversammlung
Foto: 1872 eine Ruine und heute immer noch eine Ruine: Die Akropolis © Foto: Wikipedia | Bearbeitung U. Heldt | nh