FRIELENDORF. In den letzten Tagen ist mit jeder Menge Mythen aufgeräumt worden, die sich um das berühmteste Rock-Festival ranken, das es je gegeben hat: Woodstock. Es war nicht umsonst, es war nicht als Fest der Liebe geplant, es steht aber inzwischen scheinbar für alles, was jeglichen kulturellen Wandel ausmacht. Das ist der letzte Mythos, der sich hält und von jedem benutzt werden darf, der das braucht, obwohl alle Unwahrheiten und Verklärungen inzwischen aufgeklärt sind.
Aber spätestens, wenn der Fernsehgarten gar auf den Zug Woodstock aufspringt, das ganze sogar mit Wacken durchmixt und Doro Pesch dazu auftreten lässt, dann ist es an der Zeit, um hellhörig zu werden. Vielleicht wären Doro Pesch und – viel schlimmer noch – Luke Mockridge – in Woodstock aufgetreten, wären sie etwas früher geboren. Sind sie aber nicht – überhaupt war Woodstock kein Fernsehgarten.
Es gab übrigens auch vor Woodstock schon Festivals. Zum Beispiel auf Burg Herzberg – im damaligen Kreis Ziegenhain – ziemlich genau ein ganzes Jahr zuvor. Aber auch andere amerikanischen Festivals waren älter. Die Macher von Woodstock hatten sich angeschaut, wer gerade richtig „In“ gewesen ist und Musiker engagiert, was das Zeug hält. Auch unter Hippies gilt das Gesetz von Angebot und Nachfrage, selbst wenn die das vehement ablehnen. Auch „schön bunt“ ist im Grunde eine Uniform. Ist das Line-Up geil, dann verspricht es auch eine geile Party. Da muss man hin! Und jeder der dort hingefahren ist, hat das mit dem Gedanken getan, auch Eintritt zu bezahlen. Es gab noch kein WhatsApp und keine SMS, über die man hätte posten können, dass die Eintrittskassen gar nicht rechtzeitig aufgebaut worden sind und man einfach so aufs Gelände marschieren konnte. Dann hat sich die ganze Sache schlicht und ergreifend verselbstständigt. Eigentlich ist der Mythos einer Kette von Zufällen geschuldet…
Natürlich können wir jetzt sagen, es gibt gar keine Zufälle. Auch das mag sein! Aber dann war es auch kein Zufall, dass keine Schlagerstars bei Woodstock auf der Bühne gestanden haben. Dort hat im Grunde überhaupt niemand gestanden, der die ganze Welt begeistert hätte. Tatsächlich waren die Hippie-Bewegung und die ganze Rockmusik-Kultur eine Subkultur. Das, was die Generationen bis 20 oder 25 Jahre hören, hören auch heute diejenigen nicht, die 35 oder 45 Jahre alt sind. Menschen zwischen 15 und 95 anzusprechen, das gelingt vielleicht Helene Fischer, aber CCR, Joe Cocker, Jimi Hendrix oder Richie Havens fanden eben nicht alle gut, die über 25 oder 30 Jahre alt waren. Trau keinem über 30, haben wir damals noch getönt. Wir hätten es gar nicht gewollt, dass die unsere Musik hören!
Und wenn ich mir dann das aktuelle Durchschnittsalter der Fernsehgarten-Zuschauer anschaue, dann ahne ich schon, dass das nicht hinhaut. Dass Woodstock so gigantisch war angesichts einer echten Subkultur, ist in der Tat verblüffend, ändert aber nichts daran, dass es dabei nicht um eine allumfassende, populäre Kultur ging, sondern dass sich dort Menschen trafen, die es anders wollten. Aber wenn sich heute inflationär plötzlich alle auf Woodstock berufen, die irgendetwas gerne anders hätten, dann ist das verdächtig.
Gäbe es heute Woodstock, dann würden dort weder die besorgten Bürger, noch die Anhänger irgendeiner Partei – nicht einmal der Grünen – hingehen, sondern eben die, die der Meinung sind, dass da noch etwas ganz anderes sein muss, was Menschen verbinden könnte, statt sie zu trennen.
Ich freue mich, wenn ganz Deutschland, wenn die ganze Welt sich daran erinnert, dass vor 50 Jahren Woodstock stattgefunden hat. Super! Dass es jeder für seinen Wunsch benutzt, irgendetwas auf dieser Welt anders zu sehen, weil er gerade mit irgendetwas in der Politik oder seinem Leben unzufrieden ist, dann hat er (oder sie) Woodstock nicht verstanden.
Ihr
Rainer Sander
2 Kommentare
»Es war nicht als Fest der Liebe geplant, es steht aber inzwischen scheinbar für alles, was jeglichen kulturellen Wandel ausmacht.«
Das »scheinbar« hör ich weinend – er meint gewiss »anscheinend«!
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