HOMBERG/EFZE. Zum 50ten Jubiläum des Jahres 1968 steht natürlich die Betrachtung dieses Jahres publizistisch-historisch im Zentrum der Wissenschaft und natürlich auch in der Regional- und Lokalgeschichte. Aus diesem Grund hat der Autor auch die Schülerzeitungen der 1960er Jahre des Homberger Bundespräsident Theodor-Heuss-Gymnasiums (BTHS) neu herausgegeben.
Mit diesem zweiten Band zur Schulgeschichte der THS Homberg möchte der Autor aber darüber hinausgehen und den Focus auf die Folgen der Chiffre 1968 legen. Wie und wann zeigten sich erste Veränderungen an den Schulen, die man auf die Forderungen der 68er zurückführen kann? Wann begannen Veränderungsprozesse, welche die Schulen, hier am Beispiel des Homberger Gymnasiums, liberalisierten und demokratisierten?
Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 in West-Berlin begann der schleichende Zerfall der Bewegung in unzählige „Ismen“. Nun gab es Maoisten, Trotzkisten, Leninisten, Feministen, Pazifisten, Ökologen, etc.
Dann kam ein Jahr später der Regierungswechsel in Bonn in der alten Bundesrepublik von den CDU-geführten Regierungen hin zur sozial-liberalen Regierungskoalition unter Bundeskanzler Willy Brandt, dem ersten SPD-Kanzler der Republik, als ein einschneidendes Ereignis. Und Brandt reagierte auf die 68er und das schon in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 und bot ihnen eine neue politische Heimat. Nicht umsonst hatten ihn im Wahlkampf Linksintellektuelle wie der Schriftsteller Günter Grass und Klaus Staeck, um nur zwei zu nennen, unterstützt. „[…] Wir wollen mehr Demokratie wagen“, lautete das Motto von Brandts Regierungserklärung. Brandt wollte dafür sorgen, dass „jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.“ Und das sollte auch für die Jüngeren der Republik gelten. „Wir werden dem Hohen Haus ein Gesetz unterbreiten, wodurch das aktive Wahlalter von 21 auf 18, das passive von 25 auf 21 Jahre herabgesetzt wird […]. Wir werden auch die Volljährigkeitsgrenze überprüfen“, so Brandt in der Regierungserklärung. Gleichzeitig betonte Brandt aber, dass die jungen Menschen aber dafür auch Verständnis entwickeln müssen, „dass auch sie gegenüber Staat und Gesellschaft Verpflichtungen haben“. Brandt sah in diesem Zusammenhang auch die Notwendigkeit bildungspolitischer Reformen. „Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung stehen an der Spitze der Reformen, die es bei uns vorzunehmen gilt. Wir haben die Verantwortung, soweit sie von der Bundesregierung zu tragen ist, im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft zusammengefasst“.
Und Brandt weiter: „Wir können nicht die perfekte Demokratie schaffen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert. […] Wir suchen keine Bewunderer; wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten“.
Und das setzten in den Jahren 1969 bis 1973 viele Schüler der BTHS z.T. gegen große Widerstände um. Und der Anfang lag sogar vor der Ära Brandt. Manchmal, aber selten, wurden dabei auch illegale Mittel eingesetzt. Das kritische Denken, das oft genug sich selbst noch beigebracht werden musste, hielt Einzug in die altehrwürdigen Mauern des ehemals Königlich-Preußischen Lehrerseminars.
Aus diesem Grund sind zu Anfang des Buches einige Publikationen von ehemaligen und damals aktuellen Schülern wiedergegeben. Den Anfang macht der „Abriss“ vom Mai 1969, der die Brücke zur „Radikalität“ im Jahr 1968 bildet. Diese „Zeitschrift“ wurde zwar von der Hessischen Naturfreundejugend“ in Kassel herausgegeben, doch das Layout zeigt im Vergleich zu den „Klasse Aktionen“ vom September 1968 und vom Juni 1969 (im Vorgängerband) eindeutige Übereinstimmungen im Bereich des Layouts. Den Anschluss bilden zwei Schülerzeitungen, „Kontakt“ und „ici“, die den Übergang von der rebellischen „Schülerschaft“ zur „gemäßigt linken“ symbolisieren. Erneut, wie schon im Vorgängerband, bilden biografische Notizen zu den Herausgebern bzw. Chefredakteuren den Abschluss.
In darauffolgenden Aufsätzen wird versucht zu zeigen, wie sich Brandts „Mehr Demokratie wagen“ Stück für Stück an der BTHS in Homberg niederschlug und letztendlich durchsetzte. Dass dies ein Prozess war, der sich nicht linear abbilden lässt, sondern mit vielen Brüchen und Rückschlägen verbunden war, lässt sich zeitbedingt nachvollziehen.
Nichtsdestotrotz profitieren noch heute die Schüler der Schule wie anderswo in Hessen und in der gesamten Republik von dieser Entwicklung. Dass sich Schüler und Lehrer heute „auf Augenhöhe“ bei aller Notenrelevanz an Hessens Schulen begegnen, dass es ein Miteinander zwischen Schülern und Lehrern gibt, dass Schüler zu recht viele Rechte haben, mit denen sie sich gegen z.B. Willkür ihrer Lehrer wehren können, dass alles geht z.B. zum Teil auf die 68er und auch z.T. auf die Politik Willy Brandts zurück. Blicken wir also gespannt auf eine Phase der hessischen Bildungspolitik exemplarisch eines nordhessischen Gymnasiums zurück, die ganz deutliche Spuren am BTHS-Gymnasium in Homberg hinterlassen hat und glücklicherweise bis heute ausstrahlt.
Das 224 Seiten starke Buch „Mehr Demokratie wagen“: Schülerzeitungen, SV, Graffiti, Streiks und Protest – Eine Dokumentation der Jahre 1969 bis 1973 an Hombergs Gymnasium, Zur Geschichte einer unruhigen und politischen Zeit am BTHS-Gymnasium in Homberg/Efze kann bei Amazon zum Preis von 11,04 € erworben werden. (Thomas Schattner | pm)