SCHWALMSTADT | HOMBERG/EFZE. „Meine Stadt stirbt, hier gibt‘s nur Schrott, das Sortiment ist provinziell, die Auswahl zu klein, die Preise zu hoch, überall stehen Geschäfte leer, „Ein-Euro-Läden“ gibt es zu viele, dafür keinen Elektromarkt, Klamotten sind nur für Senioren, H & M müsste es geben, Media-Markt oder Saturn müssen her, es sind zu wenig Parkplätze in der Altstadt, die Politiker sind schuld!“
Über welche Stadt habe ich geschrieben? Genau! Über Schwalmstadt, Felsberg, Alsfeld, Homberg, Melsungen, Rotenburg, Gudensberg, Wolfhagen, Hofgeismar, Witzenhausen, Bad Sooden-Allendorf, Borken… Na gut, in Borken gibt es noch einen Elektromarkt aber dem könnte es besser gehen und Schwalmstadt ist scheinbar die Hauptstadt des Textil-Einzelhandels, auch wenn C & A nichts für Männer hatte…
Wer die Online-Portale, klassische Zeitungen und Social-Media-Seiten studiert, findet stets dasselbe Gejammer über die eigene Stadt, nur in Fritzlar schluchzt man etwas leiser. Aber die katholische Enklave musste sich schon über Jahrhunderte autonom versorgen und ernähren, irgendwie steckt das in den Genen. Man kauft nicht im protestantischen Kassel. In Wahrheit wohnen in Fritzlar mehr Protestanten als Katholiken, aber das ist ein anderes Thema…!
Der Hessische Rundfunk war gestern in Homberg, der „Hauptstadt der Kleinkriege, Parkplatzfans und Rathauskritiker“. Wie kann man Leerstand begegnen, so lautete die zentrale Frage! Wer rechnen kann, hat Vorteile. Mit der Feststellung, dass der Onlinehandel bei Kleidung und Elektro einen Marktanteil von 20 Prozent erreicht, die Region in den letzten 25 Jahren rund 10 Prozent ihrer Einwohner verloren hat und vom verbliebenen Rest doppelt so viel pflegebedürftig sind, als noch vor 20 Jahren, dann hilft ein Dreisatz, um festzustellen, dass jedes dritte Geschäft überflüssig ist.
Da steht schon mal was leer und weil wir alle kein Geschäft betreten, in dem es nicht – neben den 15 bekanntesten Fernsehbieren – mindestens 15 weitere Biersorten gibt, in dem nicht nur Mars, Bounty, Milky Way und Nuts – wie noch vor 30 Jahren – liegen, sondern auch Snickers in drei Sorten, Twix rechts & links, Müsli und Cerealien-Riegel mit und ohne Superfood-Anteile, 20 verschiedene Vollwaschmittel, die eigentlich alle gleich gut waschen aber ein wenig anders riechen, dazu Waschmittel für buntes, weißes, schwarzes, Kunstfaser, Empfindliches, Allergiker und Veganer, klappt das mit zweihundert Quadratmetern Verkaufsfläche nicht mehr. 1.500 Quadratmeter und mehr sind das Maß, die Fläche von 15 Fachwerkhäusern einer nordhessischen Altstadt.
Das gleiche gilt für alle anderen Einzelhandels-Sortimente. Wir wollen in jedem Dorf einen Tante-Emma-Laden mit Vollsortiment und Internet-Preisen. Aber wir kaufen so nicht mehr ein und es kann vor Ort nie so billig sein, wie bei Zalando, Amazon, Otto & Co, die aus großen Logistikzentren mit geringen Raum- und Personalkosten versenden.
Ein paar wenige Städte werden im Kampf um Kunden und Einzelhandelsflächen „gewinnen“. Entweder die, in denen der Bürgermeister kontrolliert, dass niemand mit Einkaufstaschen im Auto den Ort verlässt und zur Primetime die DSL-Leitungen abschaltet oder solche, die aktiv Einzelhandelsflächen konzentrieren, geschickt Platz in der Innenstadt schaffen, wo Einzelhändler gut kooperieren, die Stadt aktives Marketing und Imagepflege betreibt und zudem Hauseigentümer motiviert mit Nachbarn gemeinsam zusammenhängende Einzelhandelsflächen zu vermieten. Vor allem die, die mit positivem Image und freundlicher Ausstrahlung, Kunden aus der Region anlocken.
Wer fährt schon gerne in eine Stadt, in der die eigene Bevölkerung über alles mosert, was noch da ist und Lokal-Politiker – ohne bessere Ideen – aus Prinzip schlechtreden, was andere tun?
Ihr
Rainer Sander
Mehr zum Thema lesen Sie hier: Hessischer Rundfunk: Wilde Camper in Homberg
6 Kommentare
Mit Pinhaardt ist Schwalmstadt dem Untergang näher gekommen
Was die 15 bekanntesten Fernsehbiere etc. betrifft, fällt mir dazu ein Song von Joe Jackson ein:
„It’s all too much“ (einfach nach Songtext browsen und ggf. übersetzen lassen).
Zitat: “ ……. So many big decisions
Boiled or scrambled, fried or even raw
I’m so damn open-minded
Used to think I’m lucky but I’m cursed
I’m cursed
I hate this supermarket
But I have to say it makes me think
A hundred mineral waters
Fun to guess which ones are safe to drink
Two hundreds brands of cookies
87 kinds of chocolate chip
They say that choice is freedom
I’m so free it drives me to the brink
And you know why… it’s all too much
It’s all too much for me to bear
What kind of shampoo suits my hair …. „
Nun seit mal alle schön zufrieden und meckert nicht rum. Der Bürgemeister und der Einzelhandel arbeiten an einem Geheimprojekt zur Rettung von Schwalmstadt. Das ist doch Opium für das Volk. Der Untergang ist nicht mehr aufzuhalten, aber man darf nicht darüber reden.
1369–1371 gab es in Kölner den ersten urkundlich belegten Weberaufstand. Es folgten die Augsburger Weberaufstände 1784/85 und 1794/95 und dann der Schlesische von 1844.
Damals wie heute ging es um Anpassung von Menschen, die sich nicht an veränderte Lebensbedingungen durch technischen Fortschritt anpassen wollten. Menschen, wie sie Herr Sander hier treffend beschreibt.
Tante Emma ist tot, auch wenn manche das nicht wahrhaben wollen. Und Leute, wie meine eigene Schwester, die als Ex-Lehrerin bis heute Computer einfach ignoriert, weil sie dessen Funktion nicht begreift, sterben irgendwann endgültig aus!
My home is my Datenkrake. Die Alexias & Co beherrschen „hinkünftig“ das Geschehen.
Was aber hindert findige Geschäftemacher daran (ggf. eine Spezialversion für die „Moserer im SEK-Kreis“) eine virtuelle Tante Emma zu erfinden?
Die passenden Virtual-Reality-Brillen für so einen Laden gibt es bereits. Und bis Leute – wie meine vegane Ex-Lehrer-Schwester(so sie bis dahin nicht wegen „Bio-Möhrenmangel“ ausgestorben ist) – sich daran gewöhnt und den virtuellen Weg zur Kasse finden, liefert’s bereits die „Flugdrohne Amandazon“!
Die Kolumne von Rainer Sander trifft immer den Nagel auf den Kopf!
Machen Sie weiter so – wir freuen uns schon auf die nächste.
Wenn ein paar Menschen ihren Grips mehr einschalten würden wäre die Welt gleich ein bisschen besser und schöner.
Wo er recht hat, hat er recht.
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