Henry Richter ist seit gestern Bürgermeister
BAUNATAL. „Jetzt geht’s los, jetzt muss, was bisher Vision und Vorstellung war, Wirklichkeit werden“, beschrieb Regierungspräsident Mark Weinmeister (CDU) die Aufgabe für Henry Richter (parteilos) ab heute. Gestern Abend wurde der Wahlsieger vom 30. Juni mit zauberhafter Musik und schier endlosen Worten ins Amt als Baunataler Bürgermeister eingeführt.
Wirklich groß war das Interesse an der Bürgermeisterwahl, trotz zwei sehr gegensätzlichen Kandidaten in Baunatal, nicht. Nur 42,7 Prozent der Wahlberechtigten wollten einen Bürgermeister wählen. Dafür war der Andrang gestern in der Stadthalle riesig und „erzwang“ sogar die Öffnung eines weiteren Zuschauerbereiches.
Auf der Moldau Richtung Amtseid
Bevor Stadtverordnetenvorsteher Reiner Heine (SPD) Richter in sein Amt einführen und 19 Ehrengäste Grußworte sprechen konnten, strömte die Moldau durch Baunatal. Yana Krasutskaya, Musiklehrerin der Baunataler Musikschule, interpretierte Smetanas Werk von der Wunschliste des neuen Bürgermeisters, in dem das Rinnsal an der Quelle musikalisch zu einem breiten Strom anwächst, auf der Violine. Reiner Heine wollte nicht unerwähnt lassen, dass die Moldau gerade in diesen Momenten alles andere als ein romantischer Fluss sei …
Familie, Medien, Beiräte, Magistrat und Stadtverordnete waren genauso gekommen wie viele Baunataler Bürger. Der Baunataler Parlamentssprecher würdigte zunächst Daniel Jung (SPD) für einen zweiten Einsatz in der Doppelfunktion als Ersten Stadtrat und Vertreter der Bürgermeisterin mit einem Wort, das, so Heine, „viel zu wenig in der Politik verwendet wird: Danke!“
Kein Kirchturmdenken – „bürgermeisterlich“ denken!
Jenseits des formalen Vorgangs nach Paragraf 46 der Hessischen Gemeindeordnung HGO blickte der Parlamentschef auf Baunatals berühmteste Tochter Dorothea Viehmann, die den Brüdern Grimm einst die Märchen erzählte. Ihnen verdanken wir das erste deutsche Wörterbuch. Darin steht: „Bürgermeister sollen bürgermeisterliche Gedanken haben.“ Auch Visionen, ergänzt Heine und fordert dazu auf, „mit uns zusammen Ideen zu entwickeln!“ Dafür bietet er die konstruktive Zusammenarbeit des Parlaments an, denn „den zahlreichen Herausforderungen können wir nur gemeinsam gerecht werden.“
Spätestens mit dem Sprechen des Diensteides wird bewusst, dass ab jetzt die Verantwortung für die Folgen von Entscheidungen – und zwar getroffene genauso wie nicht getroffene – auf den gewählten Repräsentanten übergeht. Baunatals neuer Bürgermeister sprach die Formel frei von Gottes Hilfe. Die kam von dessen irdischem Vertreter: Der katholische Pfarrer Dr. Joachim Rabanus lud ein zu einem Blick vom Kirchturm. Da oben wird alles viel kleiner. Stimmt! Aber in Kirchtürmen sollte man nicht denken, oder …?
Kassel und Baunatal sind ein Space …
Auch Kassels Oberbürgermeister blickt von oben herab. Dr Sven Schoeller (B90/GRÜNE) stellt sich vor, ein UFO würde landen. Würden Kassel und Baunatal von Außerirdischen als zwei Städte wahrgenommen? Sein Rat: Extraterristrisches Denken zu eigen machen! Bei gleichen Herausforderungen an Wohnungsbau, Mobilität und Wirtschaftskraft sind Kassel und Baunatal ein Space. „Mit Ihnen“, schmeichelte der OB, kommt ein Mann, der offen, zugewandt und pragmatisch ist.“ Er erkennt gemeinsame Interessen der Bürger von Baunatal und Kassel. Freundliche Fusionsavancen an einen schwächelnden Wirtschaftsstandort?
Der zweite OB am gestrigen Abend kam aus Baunatals Partnerstadt Sangerhausen (Sachsen-Anhalt). Auch Torsten Schweiger ist neu im Amt. Seit sieben Wochen. Mit neuer Aufgabe entstehe nicht nur ein Amt, sondern auch Verantwortung. Man müsse miteinander reden und gemeinsam gestalten. Der Fokus läge auf Beständigkeit, aber es bedarf offener Dialoge. Die Ideenbox von Richter gefällt ihm: „Mit Ihrer Wahl beginnt neues Kapitel. Sie bringen neue Ideen und Entschlossenheit mit. Glückauf und Gottes Segen!“
Zwei Präsidenten über Schuld, Recht und Ordnung
Landespolizeipräsident Robert Schäfer, bisher Henry Richters Chef, äußert sich voller Stolz und Vertrauen in die Führungsqualitäten des gelernten Polizisten. Er bringe tiefes Verständnis für Recht, Ordnung und die Bedeutung des Rechtsstaates mit ins Amt. „Alles ruht auf Recht und Ordnung!“ Gerade in einer Zeit, in der Demokratie vor Herausforderungen stehe, bedürfe es an Menschen, die vermitteln, zuhören und Entscheidungen treffen.
Auch Regierungspräsident Mark Weinmeister ging auf den WechselRichters aus dem Polizeidienst ein: „Bisher war Ihre Aufgabe zu schauen, wer ist schuld! Jetzt steht fest: immer der Bürgermeister ist schuld!“ Baunatal sei vieles gewohnt, jetzt aber sei vieles nicht mehr wie geplant. Der Hauptsteuerzahler schwächelt aber jeder denkt, „der Bürgermeister ist nur für mich da“, und die Region schaut auf Baunatal! Dafür „Gottes Segen und Glück“!
Alle brauchen Baunatal …
Landrat Andreas Siebert schaut und sucht Zusammenarbeit mit allen Bürgermeistern. „Nach Corona, Ukraine-Krieg und Rechtsruck gestalten wir Heimat.“ Baunatal sei einer der wichtigsten Wirtschaftsstandorte. 21.000 Menschen pendeln nach Baunatal Ein Drittel der Wirtschaftsleistung des Kreises entstehe hier. „Wir haben viel dafür getan, dass sich VW entwickeln kann.“ Jetzt ist Zeit für eine Gegenleistung.
Schauenburgs Kollege Michael Plätzer sprach zugleich auch für die Bürgermeisterkreisversammlung. Wenn Richter feststellt, dass die Welt viel komplizierter ist, stehen alle Kollegen unterstützend zur Seite. Dann wird also alles gut werden.
Die Sprache der Bilder – nackt auf dem Pferd durch die Stadt?
Zwischendurch spielt Yana Krasutskaya auf der Violine Queens „Don’t Stop Me Now“ von Richters Wunschliste. Nichts soll den neuen Bürgermeister aufhalten! Manchmal hilft bei Musikstücken ein Blick in deren Entstehungsgeschichte und Inhalt, um zu verstehen, was mitschwingt: Freddy Mercury bezieht sich im Text voller Ironie unter anderem auf eine berühmte historische Szene aus dem 13. Jahrhundert. In der reitet Lady Godiva, um die von ihrem Gatten Leofric (Earl of Mercia) erhobenen Steuern zu senken, nackt auf einem Pferd durch die Stadt Coventry. Wenn’s zukünftig mit der Grundsteuer nicht läuft: Visionen braucht eine Stadt …
MdB Esther Dilcher (SPD) wünscht Richter nicht nur ein glückliches Händchen, sondern auch den richtigen Riecher. Es gäbe nicht nur schöner, besser, weiter. Bundestagskollege Boris Mijatovic (B90/GRÜNE) freut sich auf neue Akzente. Die Landtagsabgeordnete Anna-Maria Schölch (CDU) erkennt, dass sich die Stadt für einen Kandidaten entschieden hat, der sagt, fest verwurzelt mit Baunatal zu sein. Wie ein Baum und der setzt nicht auf das erstbeste Sprungbrett, um aus Baunatal wieder wegzukommen …
Die Fraktionen hoffen
Drei von vier Fraktionsvorsitzenden in der Stadtverordnetenversammlung boten dem neuen Bürgermeister Zusammenarbeit an. Udo Rodenberg (SPD) glaubt, dass es nicht leicht wird, Wahlversprechen umzusetzen. Rainer Oswald (FDP) sieht einen Beginn mit Hiobsbotschaften, aber der (von der FDP unterstützte) Bürgermeister kann im Diskurs Dinge voranbringen und Visionen umsetzen. Franziska Bünsow (B90/GRÜNE) erinnerte daran, dass Richter seit 2016 die Arbeit der GRÜNEN Fraktion maßgeblich mitgestaltet hat.
Hauptgeschäftsführer Dr. Arnd Klein-Zirbes nutzte die Gelegenheit, die Arbeit der IHK in Baunatal ausführlich darzustellen. Tatsächlich, aus der Kirche kann man austreten, aus der IHK nicht. Mit Blick auf VW gab er Richter einen Satz von Helmut Schmidt mit auf den Weg: „In der Krise beweist sich der Charakter.“ Es gelte, den Stier bei den Hörnern zu packen.
Georg Heinemann, Vorstandssprecher des KSV Baunatal, redete für die Vereine der Sportstadt Baunatal und lud Henry Richter zum Yoga ein.
Außerhalb des Parlaments läuft’s
Die Erwartungen bei Interessengruppen in Baunatal sind hoch. Alle drei Bürgerinitiativen hatten Richter unterstützt und formulierten ihre Erwartungen.
- Dr. Alexander Liehr von der Bürgerinitiative Großenritte-Nord findet, dass Digitalisierung und Klimawandel ein Umdenken erfordern. Bürgermeister Richter sieht er in der Lage, mit den Bürgern gemeinsam Politik zu gestalten.
- Rüdiger Hungerland von „Schienenverkehrslärm Baunatal“ sieht den Beginn einer neuen Ära. Richter sei in dieses Amt gewählt worden, weil die Menschen ein tiefes Verständnis für die Anliegen der Bürger und einen Visionär – der Brücke baut – erkennen. Jemand, der komplexe Themen kreativ angeht und Entscheidungen auch erklärt. Die Gemeinschaft werde ihn unterstützen, die Stadt kreativ zu gestalten. Im Namen aller Bürger wünscht er viel Erfolg und schenkt Ohrenstopfen. Da schwingt eine Menge Sendungsbewusstsein mit.
- Alexander Tyrasa vertrat die Interessengemeinschaft „Gemeinsam für Baunatal“, eine kleine Gruppe, die Baunatal außerhalb der politischen Gremien mitgestalten will und freut sich, dass Richter auf die Bürger zugeht und Politik nicht im kleinen Kreis gestalten will. Das verhindere Verdrossenheit und lasse keinen Platz für abstruse Ideen. Vielleicht aber für eine neue Partei?
Ein bunter Strauß an Erwartungen
Kathrin Appel-Göllner, Präsidentin im Landesverband der Floristen, stellte einen Blumenstrauß zusammen aus hartwurzendem Bambus, aufstrebender Weißer Lilie, nach Geltung strebender Hortensie, Sonnenblume für Kinderlächeln, schlichtem Kohl, duftendem Rosmarin und Lavendel, eleganten Arthurienblüten, Strilizien, die in Campanula Partner finden, stacheliger Distel, internationalem Palmwedel und ein bisschen Glitzer. Der Bürgermeister sei der Faden, ohne den alles keinen Halt hätte: „Du musst uns alle zum Glänzen bringen!“
Drücken so viel gute Ratschläge und (Glück-) Wünsche eher großes Vertrauen oder gar Zweifel der Grüßenden in die neu anbrechende Zeit aus? Die Antwort kann jetzt nur Henry Richter geben.
Ein bunter Strauß von Aufgaben
Nach dem Czardas von Monti hielt Henry Richter seine erste Rede als Bürgermeister. Er sei sehr gerührt von so viel Grußworten aus Stadt, Politik und Stadtgesellschaft. Es gehe nicht ohne diese Unterstützung. Er stehe für Veränderung und Beständigkeit zugleich. Das Wohl der Bürger verlangt eine auf Vertrauen basierende Zusammenarbeit! Er möchte das Rathaus transparenter, bürgernäher und digitaler gestalten. Daniel Jung habe fünf Jahre lang großes geleistet und er freut sich auf die Zusammenarbeit.
„Heute“, so Richter, „beginnt nicht nur neue Amtszeit. Es enden auch 32 erfüllte Jahre bei der Polizei. Sicherheit wird in Baunatal eine zentrale Rolle spielen. Baunatal wird Kompass Kommune.
Herausforderungen VW und Haushalt
VW prägt und steht nicht nur vor großen Herausforderungen, sondern in einer Krise. Er spürt Existenzängste. Die Stadtverwaltung wird alles tun, verspricht er. Deshalb möchte er eine Stabsstelle Wirtschaft einrichten und einen Maßnahmenplan für die Stadt entwickeln. In den kommenden Tagen verspricht er engen Austausch mit Werksleitung und Betriebsrat und richtet einen Appell an Landes- und Bundesregierung, um Maßnahmen zu ergreifen.
Stadtmarketing und Netzwerke sind von Bedeutung für die Stadt. Mit Sorge blickt der neue Bürgermeister dabei auf die finanzielle Situation. Es ist schwer, den Haushalt auszugleichen. Die Lösung ist ein digitaler Bürgerhaushalt. Gesellschaftliche- und Klimatische Themen spricht er an, bei Betreuung und Bildung der Kinder bleibt die Qualität erhalten. Senioren sollen Beratungsangebote erhalten. Integration und Inklusion werden fortgesetzt. Besonders stolz ist er auf das Baunataler Vereinsleben. Das verdient höchste Wertschätzung. Mehr tun möchte er für Kunst, Kultur und Sport.
„Die Entwicklung in Thüringen und Sachsen sollte uns zum Nachdenken anregen. Respekt und Achtsamkeit sollen in Baunatal extreme politische Entwicklungen verhindern.“ Worte des Dankes richtete er an seine Familie.
Warten auf den Wind der Veränderung
Zum Schluss noch einmal Violinen-Musik. „Wind of Change“. Zeit für Veränderung? Musiker Reiner Heine spricht von der „Hymne der Wende“. Manchmal hilft zur Einordnung ein Blick auf aktuelle Versionen. Seit zweieinhalb Jahren singen die Scorpions einen eher apokalyptischen Text: „A dark and lonely night / Our dreams will never die / Waiting for the wind / To change“. Also nur noch Warten auf Veränderung …
Nach dem Eintrag ins Goldene Buch gab’s Suppe, Weißbrot, Brezeln und viele Gespräche im Foyer der Stadthalle. (Rainer Sander)