CHATTENLAND: Morgen früh beginnt die Wahl in Deutschland und morgen Abend stehen die neuen Europaabgeordneten fest. Bleibt Europa, wie es ist? Ich könnte Euch dazu ein bisschen erzählen. Ok? Ich treffe in Eurer Zeit immer auf Menschen, die von den deutschen Tugenden und den germanischen Wurzeln schwärmen. Oder auch keltischen. Da bekomme ich immer Gänsehaut. Die berufen sich auf mich? Stellen wir doch mal eins klar:
Es hat niemals DIE Kelten oder DIE Germanen gegeben. Reden wir doch mal über die Geschichte. Nachdem der Homosapiens – ausgerechnet aus Afrika – in Mitteleuropa angekommen ist und sich mit den hiesigen Neandertalern vermischt oder sie verdrängt hat (der erste Bevölkerungsaustausch in unseren Breiten), ging es lebhaft zu. Diese Zuwanderung wird aus Eurer heutigen Sicht tatsächlich als Bereicherung empfunden. Zumindest in den Kreisen, in denen Intelligenz als Vorteil betrachtet wird. Der Homo Sapiens hatte einfach mehr drauf!
Die Kimbern und Teutonen (alles Germanen) sind später aus ähnlich schwachen (oder starken) Gründen aus den Gebieten an Nord- und Ostsee ausgebüxt, wie die heutigen Flüchtlinge aus Afrika und Asien. Klimaveränderungen und Missernten haben sie nach Süden getrieben. Heute fliehen die Menschen aus den gleichen Gründen von Süden nach Norden.
Wir gehörten zu verschiedenen Stämmen. Da waren außer den Kimbern und Teutonen noch die Friesen, Usipeter, Hermunduren oder Goten und viele andere. Wir haben mal zusammengehalten und mal waren wir uns spinnefeind. Bei den Griechen waren alle Menschen nördlich der Alpen Kelten. Die Sammelbegriffe Germanen und Kelten hat ausgerechnet Julius Cäsar um 50 vor Christus geprägt. In Rom, dem damaligen Brüssel. Von dort aus wurde ein mächtiges Weltreich regiert, dass allen Völkern ihre Götter ließ und sogar Herrscher aus deren Reihen zuließ. Weil Cäsar pausenlos erklären musste, wen er bereits besiegt hatte und gegen wen er noch Armeen aufstellen und finanzieren musste, waren die Besiegten schnell die Kelten und die unbesiegbar aufsässigen die Germanen. Irgendwann haben wir die Nummer gekauft und uns auch so genannt.
Auch Kelten hatten schon lange vor Cäsar einmal Rom überrannt. Ich erinnere mich, dass es auch bei uns nicht immer Geschlossenheit und sogar eine Menge Radikale gab. Als Arminius die germanischen Stämme, darunter auch uns Chatten vereinen wollte gegen die Imperatoren und Imperialisten aus Rom, wandte sich sein eigener Schwiegervater gegen ihn und verriet Arminius bei Varus. Tatsächlich erfolglos, denn Varus hielt die Verschwörungstheorie für Fake News. Mit der Wahrheit war es schon immer so eine Sache.
Am Ende war Germanien 9 nach Christus frei und unsere Things, diese berühmten Meetings mit viel Met und Raufereien, also echt basisdemokratisch, volksnah und dem Bürgerwillen dienend, konnten weiterhin stattfinden. Die Zukunft Germaniens wurde nicht in Rom entschieden. O. k., ein paar Kleinigkeiten blieben auf der Strecke. Auf Fußbodenheizung und beheizte Hallenbäder, im römischen Köln oder Trier völlig normal, musstet ihr danach 2000 Jahre warten und Wasseranschlüsse in Häusern sowie Abwasserkanäle haben auch im Mittelalter noch nicht funktioniert. Und wenn ich mir die Hallenbäder im Schwalm-Eder-Kreis so anschaue, haben nur noch die kleinsten in Niedenstein und Frielendorf geöffnet. Alle anderen haben Konstruktionsprobleme, die offensichtlich kaum zu lösen sind. Aber das ist wieder ein anderes Thema. Es ist nicht immer alles für alles gut …
Später sind fast alle germanischen Stämme vor den Hunnen ausgebüxt. Nicht alle fanden es ehrenhaft, das Vaterland zu verteidigen. Die Vandalen sind als Migranten sogar bis Afrika gekommen. Vielleicht zieht es gerade jetzt bloß einige ihrer Nachfahren über das Mittelmeer zurück? Wer weiß. Die Hunnen blieben jedenfalls auch im Chattenland nicht kinderlos. So viel ist sicher.
Aus den Cheruskern und anderen Stämmen wurden später die Sachsen und bei uns aus Chatten und einigen Nachbarn die Franken. Karl der Große regierte das Frankenreich, das sich über große Teile Europas erstreckte. Heute ist davon – dem Namen nach – nur noch Frankreich übrig geblieben. Verteilt haben wir uns überall.
Das mit der Zuwanderung haben wir auch nicht sonderlich ernst genommen. Da kamen immer welche und es gingen auch welche. Wir Chatten sind selbst zugewandert und eine ganze Menge von uns sind später als Bataver nach Holland ausgewandert. Die kommen heute alle im Sommer mit ihren Wohnwagen zurück. Hier sind ein paar Hunnen sowie ein paar Ungarn hängen geblieben, und als aus Chatten plus anderen Stämmen die Franken wurden, hat keiner nach der Herkunft gefragt. Das Frankenreich hat schließlich fast ganz Europa beherrscht. Heute heißt nur noch Frankreich so. Aber sind wir alle nicht immer noch Franken oder Chatten?
Im 8. Jahrhundert hat uns Bonifatius die Donareiche umgehauen und uns zu einem völlig anderen Glauben bekehrt. Das Spiel haben wir mitgespielt. Im Mittelalter und später gab es Hunderte von Fürstentümern. Nicht immer waren alle Fürsten stolz darauf, Deutsche zu sein … Euer Deutschland gibt es gerade mal etwa 200 Jahre. Grenzen haben sich früher fast jedes Jahr verändert.
Also, auch wir sind mal so oder mal so „abgebogen“ und nicht immer in die gleiche Richtung gelaufen. Es hat auch schon immer solche gegeben, die laut, aber nicht klug gewesen sind. Und auch wir haben Angst vor Gefahren gehabt. Allerdings war Gefahr bei uns fast immer gleichbedeutend mit Lebensgefahr. Alles andere war das Leben.
Europa war nie einfach. Lasst Euch nicht einreden, dass Eure Vorfahren immer tapfer waren, nationalen Stolz hatten und Europa jemals einfach gewesen ist. Es gibt für nichts eine einfache Lösung und nichts war früher „schon immer“ so. Ganz im Gegenteil!
Nutzt Eure Stimme, macht das Beste draus und vor allem beteiligt euch am Gemeinwesen. Das war bei uns tatsächlich besser. Heute will niemand mehr Verantwortung übernehmen, sich gar selbst wählen lassen, sondern lieber über andere schimpfen, die sich noch trauen. Das haben wir Chatten oder Germanen anders gesehen. Deswegen gab es zu uns auch keine Alternative …
Euer
Chatte
HINTERGRUND: Chatten:
Die Chatten lebten bereits im 1. Jahrhundert v. Chr. entlang der Flüsse Eder, Fulda und des Oberlaufes der Lahn meist in höher gelegenen Gebieten. Siedlungsschwerpunkte lagen im heutigen Niederhessen und Oberhessen, also Nordhessen und Mittelhessen. Der Chattengau gilt als chattisches Kerngebiet. Später gliederten sich die Chatten in den Stammesverbund der Franken ein. Über die Lautverschiebung wurde aus Chatten irgendwann Hessen. (rs)
2 Kommentare
Wunderhübsch das alles. Und was will uns der Verfasser damit sagen?
So wie ich es sehe soll gesagt werden, dass es an der Zeit ist Deutschland wieder zu teilen nämlich zwischen Demokraten und Rechtsextremen. Die Demokraten sollten dann im Westen und die moralisch verkommenen Rechtsextreme im Osten leben.
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