Baumgeflüster an der Neuen Bantzer-Buche mit Reimund Groß
WILLINGSHAUSEN. Überwiegend Sonnenschein, ständig wechselnde, ausdrucksstarke, sprichwörtlich malerische Wolkenkulissen, ein krachender Donnerschlag, erst Kaltlufteinfall, schließlich Sprühregen und dann ein aus dem Antrefftal aufsteigender Regenbogen.
Diese einzigartige Open-Air-Kulisse an der Neuen Bantzer-Buche oberhalb des Tales mit Blick in das Schwalmbecken und auf den Knüll am Horizont war für die außergewöhnliche Vorstellung des Schauspielers, Autors und Tausendsassa Reimund Groß mehr als passend. Unter dem Titel „Keine Haltung ohne Herkunft“ beglückte Groß 35 Zuschauende mit einem gedanklich-philosophischen Spagat auf dem gesellschaftlichen Hochseil. Mit dem Bild des Hochseilakrobaten und der Fokussierung auf den jeweils nächsten Schritt gab der Künstler sein Credo vor. Dazu bräuchte es vor allem Konzentration auf das Wesentliche.
Für Reimund Groß stellt sich die Wandlung vom einstigen Land der Dichter und Denker zur heutigen Macht der Broker und Banker als sehr wesentlich und bedeutsam dar. In Erinnerung an den Philosophen Immanuel Kant, der vor 300 Jahren in Königsberg geboren wurde und die Zeit der Aufklärung in der Erkenntnis bündelte, den Mut zu haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen.
Mit Texten von Brecht, Kafka, Tucholsky und anderen zeitkritischen Autoren, aber auch mit eigenen Werken und Liedern animierte Groß dazu, auch heute verstärkt den eigenen Verstand zu gebrauchen. Besondere Skepsis brachte er dabei gegenüber der digitalen Welt zum Ausdruck. Während bewährte Kultur verloren gehe, vermittle ihm die digitale Welt den Eindruck, man müsse am besten selbst zum Computer werden, um dieser Entwicklung standhalten zu können. Die Möglichkeit, Fenster zu öffnen, bliebe dann sogar erhalten. Er sei froh, sich im fortgeschrittenen Alter aktiv gegen eine vollständige Vereinnahmung des vermeintlichen Fortschritts entscheiden zu können.
Es dürfte wohl kein Zufall sein, dass der gebürtige Nordhesse Groß schon seit langem nur wenige Kilometer entfernt vom Stammsitz der Herren von Ribbeck im Havelland lebt und die bekannte gleichnamige Ballade von Theodor Fontane eben auch die Botschaft der Bewahrung bewährter Kultur trägt. Natürlich durfte daher an der Neuen Bantzer-Buche das Gedicht vom Birnbaum nicht fehlen.
Mit dem Baumgeflüster vom vergangenen Wochenende wurde jener Bantzer-Buche sechzehn Jahre nach der Pflanzung nun ein Wächter aus Stein beigestellt und dieser – in des Wortes doppelter Bedeutung – Lesestein eingeweiht. Das stattliche und ebenso markante Exemplar war auf dem angrenzenden Acker des Baumpaten und Ortslandwirts, Hans-Jürgen Schäfer, „gewachsen“. Kurzerhand hat er ihn dem Förderverein Kulturlandschaft zur Vollendung des landschaftlichen Ensembles am Gedenkort für den Maler Carl Bantzer zur Verfügung gestellt und damit dem „Lesestein“ ein neues Leben ermöglicht, ganz ohne Wortwechsel.
Auch wenn die zum Ende der Vorstellung steigende Ungewissheit über die weitere Entwicklung des Wetters einem längeren Verweilen und der Vertiefung der Gedanken am Ort zuwiderlief, werden alle Beteiligten den besonderen Nachmittag sicherlich als einen wahrhaftigen Hessentag in lebhafter Erinnerung behalten, resümierte der Vorsitzende des veranstaltenden Fördervereins Kulturlandschaft Schwalm e.V., Jörg Haafke. Zum Abschluss übergab Haafke dem Künstler neue Lektüre aus der Feder des Holzburger Schriftstellers Berndt Schulz für den Weg zurück ins Havelland, mit Blick auf die Wetterlage konzentriert auf das Wesentliche: „Vielen Dank für die großartige Vorstellung und für Deine Haltung“. (Jörg Haafke/nh)