FRIELENDORF. Noch 24 Stunden und wir dürfen wählen. Ein großer Teil der Wähler entscheidet sich angeblich erst in der Kabine. Ein geschätzt noch größerer Teil entscheidet sich inzwischen bereits sechs Wochen vor dem Wahltermin und stimmt per Brief ab. Ich bin viel mit dem Auto unterwegs und komme ständig an Wahlplakaten vorbei, die mir helfen sollen bei der Wahlentscheidung. Ich habe mir alle ganz genau angeschaut und hätte da noch ein paar Fragen, bevor ich in die Wahlkabine gehe …
… Tatsächlich kann man diesmal die meisten Plakate sogar beim Vorbeifahren mit dem Auto lesen, denn auch die GRÜNEN und die FDP sind dazu übergegangen, größere Schriftarten zu wählen, ihre Plakate größer zu machen und weniger Text darauf zu schreiben. O. k. wenigstens überwiegend ist das so. Die kleinen Plakate sind jetzt von Volt, Basis, Linken oder AfD.
Oma hat immer gesagt: „Hör nicht auf die Marktschreier!“ Ich habe jahrelang versucht, nicht auf sie zu hören. Wer das nicht wollte, hatte aber schon immer geringe Chancen, überhaupt ein Kreuz machen zu können. Tatsächlich haben die Parteien immer plakativ und lautstark gesagt, was sie tun wollen oder wovor wir uns fürchten müssen. Im Grunde war schon immer klar, dass vieles davon nicht funktionieren wird und eigentlich auch nicht ernst gemeint ist. Gelegentlich war das ein bisschen unangenehm, weil am Ende immer jemand an das erinnert hat, was vor der Wahl mal versprochen wurde. Natürlich hat niemand verraten, dass das ohnehin nur funktioniert, wenn eine Partei allein regieren kann. Das letzte Mal, dass so etwas möglich war, liegt in Hessen fast zwei Jahrzehnte zurück und selbst da hat am Ende nicht alles funktioniert.
Wir Wähler tragen unseren Teil dazu bei, enttäuscht zu werden. Wir wählen schließlich nicht diejenigen, die uns mit Realitäten konfrontieren, sondern diejenigen, die uns am meisten Angst machen vor dem, was kommt, um uns anschließend zu umarmen und zu sagen: „Keine Sorge, wir sind ja für Dich da und regeln alles so, dass sich nichts ändert, Du von allem mehr und von nichts weniger hast!“ Wir lieben die, die uns am meisten versprechen. Schon in der Kinderzeit war die Lieblingsoma die, die am meisten Geschenke mitgebracht hat.
Diesmal scheint alles anders zu sein! Es ist gerade so, als hätten sich alle abgesprochen, zur Landtagswahl 2003 möglichst wenig zu sagen und stattdessen ganz viel Fantasie anzuregen. Für das Angst machen fühlt sich scheinbar nur die AfD verantwortlich. Da kommt der schwarze Mann und zerstört mit der GRÜN:IN unsere Wirtschaft. Oder so ähnlich.
Ich lebe lange genug, um rückblickend sagen zu können, dass wir die Zeit der letzten zehn oder mehr Bundes- und Landtagswahlen, nach denen die Welt immer untergehen sollte, heute als „gute alte Zeit“ bezeichnen. Deshalb bin ich sicher, dass wir in 20 Jahren felsenfest davon überzeugt sein werden, dass die Welt 2023 völlig in Ordnung gewesen ist. Und 2063 werden unsere Kinder das auch von 2043 sagen.
Also, worum geht es eigentlich? Amtsinhaber Boris Rhein möchte HESSEN WEITER FÜHREN. Ein nettes Wortspiel für jemanden, der sich zwischen „Führen“ und „Weiter so“ nicht recht entscheiden kann? Im Moment haben es allerdings fast alle irgendwie mit Führung. Olaf Scholz hat Führung versprochen. Ja, o. k., Menschen formulieren nie das, was sie haben, sondern stets das, was sie sich wünschen. Es träumt niemand von Mercedesfahren, während er in Mercedes sitzt. Es träumt niemand von Führung, der führen kann. Alle wollen führen, nur die AfD hat keinen Führer.
So ist es auch mit den ehrlichen Menschen. Wer ehrlich ist, muss nicht sagen, dass er ehrlich ist, man spürt es. Politiker betonen außerordentlich oft, dass sie ehrlich sind … O. k., diese Zeiten scheinen vorbei. Tatsächlich müssen wir nur wählen gehen und es geht allen gut. Bei den GRÜNEN ist das Programm: „Damit alle alles erreichen können.“ Dafür steht Angela Dorn. „Verhinderer“ gibt es inzwischen immer mehr als „Forderer“. CDU und Freie Wähler wollen die Ampel verhindern. Wer damit beschäftigt ist, gegen etwas zu sein, dem wird es immer schwerfallen, gleichzeitig auch für etwas zu sein. Die FDP schickt für die Leistung einen Verteidiger ins Rennen. Ein Stürmer, der Tore schießt, wäre eigentlich auch nicht schlecht. Das überfordert mich gerade.
Die CDU will mehr Landärzte in die Regionen. Welche Regionen? Die LINKE hilft mit der Erklärung aus: Ins Dorf! Die SPD hat schon mal durchgezählt. Für 6.000 Ärzte und 6.000 Ärztinnen ist es Zeit. Die fallen, wenn die Zeit reif ist vom Himmel, werden in anderen Bundesländern oder Ländern abgeworben oder waren vorher Handwerker und machen ein paar Wochenendseminare? Dann fehlen die Handwerker und da weiß die SPD auch, dass 9000 Handwerker sowie 9000 Handwerkerinnen (also 18.000?) schon jetzt zu wenig da sind. Das kann, wenn die was anderes machen sollen, nur schlimmer werden. Da kommt Volt (?) um die Ecke und möchte ein Gesundheitssystem wie in Dänemark. Wow! Dort gibt es keine Krankenkassen, sondern nur ein steuerfinanziertes Sozialsystem und lediglich 18 Kliniken im ganzen Land. Das sind pro 350.000 Einwohner etwa ein Krankenhaus. Auf Nordhessen umgerechnet blieben drei Krankenhäuser übrig und die stünden vermutlich alle drei in Kassel. Das muss man wollen.
Tatsächlich fordert aber nicht irgendjemand irgendwas oder verspricht etwas. Das sind alles eigenartige Sätze, die im Raum stehen und unverbindlich zum Träumen anregen. Tarek Al Wazir „Stimmt für Hessen“. Auch solch ein Wortspiel wie beim Koalitionspartner. Es stimmt, wenn wir stimmen? Na dann! Wenn die CDU Blaulicht ins Darknet bringen möchte, frage ich mich, ob die gar nicht gemerkt haben, dass sie schon seit über 25 Jahren Hessen regieren und für die Polizei verantwortlich sind?
Es ist schon schwer, die Übersicht zu bewahren. Die LINKE beispielsweise fordert bezahlbare Miete statt fetter Rendite. Kann es sein, dass gerade keine Wohnungen mehr gebaut werden, weil damit keine Rendite mehr zu machen ist? Auch mit den teuren Wohnungen nicht mehr? Die FREIE WÄHLER möchten den Bürgerwillen durchsetzen. Ich finde das gut und bin in Gedanken schon mal meine 1818 Facebook- und 619 Insta-Freunde durchgegangen. Ich glaube, da will jeder was anderes. Das wird schwer! Immerhin wollen sie wenigstens Wohnungen bauen und dann wären ja auch die LINKEN wieder versöhnt.
Es geht also mehr ums Gefühl. Diesmal jedenfalls! Und vielleicht noch öfter? Es sind nicht so wirklich die Slogans, die einen packen und rufen: „Wähl mich!“ Es ist ein bisschen so, als würden die meisten sagen, „ich hab‘ keine Lösung, die anderen aber auch nicht!“ Und das ist dann wieder ehrlich, obwohl es keine Partei tatsächlich genau so sagen möchte? Die selbsterklärte „Basis“ will übrigens Meinungsfreiheit. Ich bin ganz sicher, dass unsere Leserinnen und Leser, die jeden Artikel bei nh24 kommentieren und sich auch unter diesen Zeilen wieder austoben werden, keine Probleme mit Meinungsfreiheit haben. Ganz im Gegenteil! Ich fange damit schon man strikt satirisch und polarisierend an, der Rest findet sich:
Wählen Sie morgen richtig! Jeder nur ein Kreuz! Ach nein, das war bei Monty Python! In Hessen macht jeder zwei Kreuze in der Kabine und das dritte wenn’s vorbei ist. Zeit für 4,3 Millionen Wähler.
Wir bekommen meistens die Regierung, die wir verdienen. Und wem alles nicht gefällt, muss beim nächsten Mal einfach selbst kandidieren! Die Chance ist groß, auch in dieser Branche herrscht Fachkräftemangel. Wer soll es denn sonst machen?
Ihr
Rainer Sander