HOMBERG. Der nachfolgende Diskussionsbeitrag von Prof. Dr. Herbert Wassmann hebt die aktuelle Bedeutung und den zentralen Stellenwert der beruflichen Bildung im zweitgrößten Landkreis des Bundeslandes Hessen hervor.
Der Beitrag weißt aber auch darauf hin, dass die Kommunalpolitik auf Kreisebene verstärkt Anstrengungen zu unternehmen hat, um kontinuierlich konkrete Schritte einzuleiten auf dem Weg in eine zukunftsorientierte berufliche Bildung im Schwalm-Eder-Kreis.
Vordringliches Ziel: Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse nicht vergessen.
Das vordringliche Ziel der Raumordnung ist nach wie vor die im Artikel 72 Absatz 2 des Grundgesetzes unter anderem geforderte „Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ in allen Teilräumen Deutschlands. Dazu sind die Standortentscheidungen der Unternehmen in Handwerk und Industrie so zu beeinflussen, dass in strukturschwachen Regionen eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen eintritt und in Ballungsgebieten eine weitere Beeinträchtigung vermieden wird.
Besondere Bedeutung der beruflichen Bildung in ländlichen Regionen erkennen.
Berufliche Bildung hat im Zusammenhang mit den Problemen der unterentwickelten Regionen eine besondere Bedeutung. Es bestehen Nachteile für Jugendliche in strukturschwachen Regionen bei der Verwirklichung ihrer Berufswünsche in der beruflichen Erstausbildung. Die meisten Jugendlichen können sich diesen Nachteilen nicht durch räumliche Mobilität entziehen. Sie müssen entweder auf schlechten verwertbaren Ausbildungsgängen ausweichen oder bleiben völlig ohne berufliche Ausbildung. Folge ist, dass sich die regionale Wirtschaftsstruktur und auch die Bedingungen ebenfalls eher verschlechtern. Es handelt sich um einen sich selbst verstärkenden Prozess.
Verstärkt Möglichkeiten der außerbetrieblichen Ausbildung nutzen.
Dieser Prozess kann nur gebremst werden, wenn verstärkt Möglichkeiten der außerbetrieblichen Ausbildung in strukturschwachen Regionen genutzt werden. Dadurch erhielten mehr Jugendliche die Chance, eine qualifizierte berufliche Erstausbildung in Anspruch zu nehmen. Auch wird damit der bestehende Facharbeitermangel verringert, womit wiederum Voraussetzungen für die mögliche Ansiedlung von Betrieben geschaffen werden. Auch wenn nicht sofort genügend Arbeitsplätze für die neu ausgebildeten Arbeitnehmer in der Region zur Verfügung stehen, bedeutet die bessere berufliche Qualifikation einen Gewinn für die Arbeitnehmer. Denn wenn der Zwang besteht, die Region zu verlassen, um einen Arbeitsplatz zu bekommen, ist dies mit besseren beruflichen Qualifikationen einfach zu bewerkstelligen als ohne diese. Ein großes Problem bildet die Anerkennung der außerbetrieblich erworbenen beruflichen Qualifikationen durch die Unternehmen. Angesichts des allseits beklagten Mangels an Fachkräften müssten diese Initiativen jedoch auch von den Unternehmen begrüßt werden.
Strukturprobleme im SEK nicht allein durch die berufliche Bildung zu lösen.
Natürlich reicht der Ansatz über die berufliche Bildung nicht aus, um die Strukturprobleme der weniger entwickelten Regionen zu lösen. Es muss eine stärkere Zusammenarbeit von Regionalpolitik und Bildungspolitik (besonders im Bereich der beruflichen Bildung) erreicht werden. Erst durch die Ergänzung einer regionalen Bildungspolitik durch eine regionale Strukturpolitik, die auf die planmäßige Entwicklung aller Ressourcen im Interesse der Arbeiternehmer ausgerichtet ist, kann eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in strukturschwachen Regionen wie beispielsweise im Schwalm-Eder-Kreis möglich werden.
Monitor Ausbildungschancen 2023 weist nach: Ausbildung bei Abiturienten immer beliebter.
Nach dem Monitor Ausbildungschancen 2023 – herausgegeben von der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh (Januar 2023) – haben Menschen mit Hauptschulabschluss es immer schwerer, einen Arbeitsplatz zu bekommen. Gleichzeitig stieg in vergangenen Jahren der Anteil der Abiturienten, die eine Ausbildung anfingen, deutlich an. Inzwischen strebt knapp die Hälfte (47,3 % in 2021) eines Abiturjahrgangs eine berufliche Ausbildung an. Zuwächse haben besonderes die duale Berufsausbildung. Immer weniger Schulabgänger mit Hauptschulabschluss gelingt die Aufnahme einer Ausbildung. Insbesondere die Übergangsquoten in die duale Berufsausbildung sind in den letzten Jahren deutlich gesunken. Im Pandemiejahr 2020 lag der Übergang in die berufliche Ausbildung bei einem Tiefpunkt von 84,4 %. Im Jahr 2021 stieg er leicht auf 87,6 %. Bei Schulabgängern mit mittlerem Schulabschluss sind die Übergangsquoten in die Berufsausbildung in den letzten 15 Jahren bei etwa 80 % relativ stabil geblieben (2021: 82 %). Hier gab es eine leichte Verschiebung von der dualen in Richtung schulische Ausbildung. Die niedrigsten Übergangsquoten haben Schulabgänger ohne Abschluss. Diese schwanken in den letzten 15 Jahren um die 35 %. Im Jahr 2021 lag die Übergangsquote bei 30 %.
Ein regionaler Berufsbildungsbericht auf der Ebene des Schwalm-Eder-Kreises fehlt.
Im Schwalm-Eder-Kreis gibt es vier Berufsschulstandorte: Fritzlar, Homberg, Melsungen und Schwalmstadt. Über welche Potenziale verfügen bzw. welche Chancen eröffnen die genannten Standorte? Welche Informationen stellen diese beruflichen Bildungseinrichtungen zur Verfügung? Wie sind die Standorte verkehrsmäßig zu erreichen? Werden regelmäßige Informationsveranstaltungen in den Gemeinden des Landkreises durchgeführt? Gibt es Modellversuche, die den Einstieg von benachteiligten Zielgruppen in berufliche Bildungsmaßnahmen erleichtern? Welche beruflichen Abschlüsse sind dort jeweils möglich? Wird jede einzelne Bildungseinrichtung den Anforderungen an die berufliche Bildung in naher Zukunft gerecht? Bestehen Ansätze der Kooperation zwischen den beruflichen Bildungseinrichtungen und den zuständigen Stellen der Berufsinformation und Berufsberatung? Während auf der Bundesebene jährlich ein Berufsbildungsbericht über die aktuellen Entwicklungen am Ausbildungsmarkt informiert und die bildungspolitischen Prioritäten der Bundesregierung benennt, fehlt ein solcher Bildungsbericht auf der Kreisebene. Auch die Kommunalpolitik braucht differenzierte Analysen im Bereich der beruflichen Bildung vor Ort, will sie die bestehenden Verhältnisse (beispielsweise im ländlichen Raum) mehr gestalten als nur verwalten.
Eine Allianz der beruflichen Bildung mit Zukunft auf kommunaler Ebene erforderlich.
Bisher geht vor allem das Bundesinstitut für Berufsbildung voran und will maßgeblich bei der Weiterentwicklung des Berufsbildungssystems mitwirken. Berufsbildung ist nach ihrer Auffassung ein Schlüssel zur Persönlichkeitsbildung, zur gesellschaftlichen Teilhabe sowie zur Sicherung der Beschäftigungs- und Wettbewerbsfähigkeit. Das Bundesinstitut für Berufsbildung setzt sich insbesondere für eine umfassende und hochwertige berufliche Bildung für alle ein. Durch ihre Arbeit sollen offene und durchlässige Bildungswege, das Lernen im Lebensverlauf und die individuelle berufliche Entwicklung gefördert werden. Darüber hinaus regt das Bundesinstitut für Berufsbildung auch Innovationen in der beruflichen Bildung an und fördert deren Umsetzung in der Praxis. Im Zusammenhang mit der Corona-Krise gab es als Vorbild auf der Bundesebene eine Allianz für Aus- und Weiterbildung 2019–2021: Gemeinsam den aktuellen Herausforderungen durch die Corona-Krise auf dem Ausbildungsmarkt begegnen.
Warum kann nicht auch solch eine Allianz der beruflichen Bildung mit Zukunft auf der kommunalen Ebene – im SEK – angestrebt werden, um sich den Herausforderungen jetzt hinsichtlich der Digitalisierung im beruflichen Bildungsbereich und der erforderlichen Kompetenzfelder in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen gemeinsam zu stellen? (Prof. Dr. Herbert Wassmann)