TREYSA (pm). „Kommt ein Mitarbeiter mit Fieber und Grippe zur Arbeit, schicke ich ihn als Vorgesetzter oder Kollege nach Hause ins Bett. Aber was mache ich, wenn er immer wieder eine Fahne hat? Vielleicht sogar betrunken an die Arbeit kommt? Da gibt es immer noch viel Unsicherheit“, sagt Thilo Quandel (58).
Das will er ändern, Betroffenen, Kollegen und Vorgesetzten helfen. Quandel ist seit September der erste betriebliche Suchtkrankenhelfer Hephatas.
„Kollegen sagen oft nichts, weil sie keine Verräter sein wollen. Vorgesetzte sind oft unsicher, die Betroffenen hoffen meistens nur, dass niemand an der Arbeit etwas merkt. Und die Klienten haben hoffentlich Glück“, sagt Quandel. Er weiß, wovon er spricht. Seit elf Jahren engagiert er sich als Vorstand und Gruppenleiter in der Suchtselbsthilfe des Freundeskreises Fritzlar.
„Ich habe früher das Blaue vom Himmel gelogen. Ich hatte doch kein Problem, nur die Anderen. Dann hat meine Tochter mir die Pistole auf die Brust gesetzt und den Kontakt vorübergehend abgebrochen. Das war der Wendepunkt.“ Vor zehn Jahren machte Thilo Quandel eine Entwöhnungstherapie, ist seitdem abstinent. „Aber, es war ein langer Weg. Ich bin getrennt, war in der Privatinsolvenz. Ich habe die Reißleine noch ziehen können, nach fast 30 Jahren übermäßigen Alkoholkonsums.“
Der 58-Jährige arbeitet seit 28 Jahren bei Hephata, seine Sucht war nie ein Thema an der Arbeit. „Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn es zum Thema geworden wäre. Auch deswegen finde ich einen betrieblichen Suchtkrankenhelfer wichtig. Ich bin für alle Mitarbeiter Hephatas da, die selbst Suchtprobleme haben oder diese meinen, bei Kolleginnen festgestellt zu haben.“ Das ist der eine Teil seiner Vollzeitstelle. Der andere entfällt auf seine Funktion als Selbsthilfecoach für die Klienten der Sozialen Rehabilitation. Seine Stelle ist deswegen in der Sozialen Rehabilitation verortet, sein Büro in der Für Uns-Manufaktur in Treysa, da, wo Quandel zuvor auch als Arbeitsgruppenleiter Digitaldruck tätig war.
Fachlich arbeitet Quandel als betrieblicher Suchtkrankenhelfer sehr eng mit der Personal- und Sozialberatung Hephatas (PSB) zusammen. „Suchterkrankungen sind eines von vielen Themen, mit denen wir uns in der PSB beschäftigen“, sagt Diplom-Sozialpädagogin Annette Müller-Sgundek (PSB). „Die PSB war gemeinsam mit der Mitarbeitendenvertretung an der Erarbeitung der Dienstvereinbarung ,Suchtprävention und Umgang mit dem Verdacht auf Suchtmittelgebrauch/suchtbedingtem Verhalten‘ beteiligt. Diese ist im Mai 2021 in Kraft getreten und sieht unter anderem auch einen betrieblichen Suchtkrankenhelfer vor.“ Annette Müller-Sgundek hofft, dass die neue Funktion des betrieblichen Suchtkrankenhelfers dazu führe, „das Thema Sucht aus der Tabu- und Schmuddelecke zu holen und besprechbar zu machen“.
Das hofft Thilo Quandel auch. „Schätzungen gehen davon aus, dass drei Prozent der Bevölkerung ein Suchtproblem haben. Wir sind bei Hephata mehr als 3.100 Mitarbeiterinnen. Da kann man sich ausrechnen, wie viele Mitarbeiterinnen auf die eine oder andere Weise betroffen sein können. Es würde mich freuen, wenn die Betroffenen selbst zu mir kommen würden. Ich glaube aber, dass ich erstmal der Ansprechpartner für Personalverantwortliche und Kolleg*innen sein werde.“
Thilo Quandel bietet seine Unterstützung kostenlos, auf Wunsch auch anonym an und ist zur Verschwiegenheit verpflichtet. Beispielsweise kann er Betroffene zu Gesprächen mit dem Arbeitgeber begleiten, gemeinsam Maßnahmen und Ziele vereinbaren und alle Beteiligten auf dem Weg dahin begleiten. „Genauso wie die PSB biete auch ich eine Dienstleistung für Kollegen an. Die Besonderheit ist, dass ich dafür eine Weiterbildung absolviert habe und auch aus eigener Erfahrung weiß, wie es ist. Ich bin kein Therapeut, aber ich biete ein offenes Ohr, Erfahrung und Unterstützung auf Augenhöhe an. Meine eigene Biografie ist der beste Beweis, dass es eine Flucht aus der Sucht geben kann.“ (pm)