Ist es klüger, sich finanziellen Risiken auszusetzen?
SCHWALMSTADT. Mit der Frage, ob die Stadt sich das Grundstück Kasseler Straße 28 in Schwalmstadt-Ziegenhain aneignen möchte oder den Eigentümerwechsel aus der Ferne beobachten will, mussten sich 29 von 38 Stadtverordneten in der Konfirmationsstadt gestern Abend in einer Sondersitzung beschäftigen. Dabei ging es weder um Kauf noch um Vorkaufsrechte.
In Hessen gibt es inzwischen mehrere tausend herrenlose Gebäude. Häuser, deren Besitzer ohne Erben gestorben sind oder die einfach niemand erben wollte. Oder solche, deren Besitzer schon zu Lebzeiten nicht mehr in der Lage waren, die Kosten zu tragen und überschuldet aufgeben mussten. Weil niemand dafür Abgaben zahlt und meistens schon vorher Grundschulden eingetragen waren, möchte die Gebäude selten jemand geschenkt haben. Sie zerfallen vor sich hin, fallen im Zweifel in den Landesbesitz und im schlimmsten Fall kümmert sich nie wieder jemand darum.
Synagoge schon vor der Reichs-Pogromnacht verkauft
Das sieht wieder schön aus, noch ist es in einer Zeit knapper werdenden Wohnraumes und nachhaltiger Ausrichtung sinnvoll. Im Falle des Gebäudes in Ziegenhain handelt es sich um die ehemalige Synagoge der jüdischen Gemeinde Ziegenhain. Sie wurde zwar vor dem 9. November 1938 säkularisiert, indem sie an einer christlichen Familie verkauft wurde, weil die Gemeinde immer weniger Mitglieder hatte, aber gerade deshalb ist sie ein Zeuge der nationalsozialistischen Vergangenheit.
Die Nachkriegszeit hat das Gebäude als Wohnhaus erlebt, seit vielen Jahren ist es herrenlos. Der Landesbetrieb Bau und Immobilien Hessen hat die Stadt jüngst darüber informiert, dass die Grundbuchgläubigerin, also eine Bank, einen Käufer für das Objekt gefunden hat, der oder die alle Forderungen, auch die der Stadt Schwalmstadt, ablösen möchte. Die Stadt Schwalmstadt hat in diesem Fall kein Vorkaufsrecht, schon deshalb nicht, weil es sich nicht um einen Verkauf im üblichen Sinne handelt, aber sie könnte sich das Gebäude – bei Ablösung der Schulden – aneignen. Dann müsste sie den aktuellen Wert des Gebäudes bezahlen. Die Bedenkzeit ist kurz, denn Anfang Juli soll die Übertragung beurkundet werden.
SPD sorgt für öffentliche Behandlung
In Schwalmstadt ist es üblich, alle Grundstücksangelegenheiten nicht öffentlich zu behandeln. Da hier oft Eigentümer, Interessenten und auch Schulden oder Preise genannt werden, ist das überwiegend nachvollziehbar. Aber die frühere Synagoge in Ziegenhain ist herrenlos und der Name des zukünftigen Eigentümers wird nicht genannt. Muss auch nicht! Auch sind die Höhe der Belastungen unbekannt. Daher beantragte die SPD-Fraktion, den Tagesordnungspunkt öffentlich zu behandeln.
Damit musste über den Ausschluss der Öffentlichkeit abgestimmt werden. Dafür sprachen sich 14 Stadtverordnete aus den Reihen von CDU und FW aus. 14 Stadtverordnete von SPD, GRÜNEN und die LINKE-Stadtverordnete votierten dagegen. Damit wurde die Diskussion öffentlich und nh24 darf berichten.
Kein unkalkulierbares Risiko eingehen
Die Beschlussvorlage des Magistrats ließ die Haltung erkennen, sich kein unkalkulierbares Risiko ins Immobilien-Portfolio zu holen. Um ein solches Gebäude zu retten, wäre auch ein Konzept hilfreich, damit überhaupt eine Kostenschätzung erfolgen kann. Der nötige Aufwand könnte bei mehreren Millionen Euro liegen. Daher lautet die Empfehlung der Stadt-Oberen an die Parlamentarier, sich das Gebäude nicht anzueignen.
- Daniel Helwig (SPD) brachte für seine Fraktion einen Änderungsantrag ein. Danach sollte der Magistrat beauftragt werden, durch geeignete Maßnahmen auf eine Aussetzung des geplanten Verkaufs der Synagoge bis zum 30.6.2023 hinzuwirken. Die damit eröffnete Frist sollte genutzt werden, um unter Federführung der Stadt alle am Erhalt des kulturhistorischen Baudenkmals interessierten Institutionen, Gruppen, Vereine und Einzelpersonen mit dem Ziel zusammenzubringen, ein Konzept für eine künftige Nutzung, die Eigentümer- und Trägerschaft, die Finanzierung von Erwerb und Umbau sowie Betrieb zu erarbeiten.
- Es gehe, so Helwig, nicht um Erwerb um jeden Preis, es sei aber eine wesentliche Entscheidung, Chancen und Nutzen des geschichtlich relevanten Gebäudes abzuwägen. Möglicherweise könne eine Kontaktaufnahme mit dem Finanzministerium die Zeit für eine Entscheidung über die Zukunft des Kulturdenkmals anhalten? Vielleicht könne man auch versuchen, sich mit der Person zu unterhalten, die das Objekt kaufen will. Er verwies darauf, dass unter anderem in Schwalmstadt Trutzhain eine der bedeutenden jüdischen Gedenkstätten zu finden sei. Woanders gebe es gute gemischte Nutzungen, aber keine Blaupause. Es bedürfe eines Planes für die finanzielle Realisierbarkeit.
Etwas Besonderes schaffen?
- Ruth Engelbrecht (B90/GRÜNE) hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt. Die Stadt dürfe kein Fass ohne Boden erwerben. Das Gebäude sei schon lange säkularisiert und es bestehe hoher Renovierungsbedarf. Auch sie mahnte ein Konzept an. Die Stadt könne das alles nicht hinbekommen und es bestehe hoher zeitlicher Druck. Andererseits handele sich um ein historisches Gebäude. Zusammen mit einer Entwicklung der Konfirmationsstadt könnte sie sich ein Projekt über christlich-jüdisches Leben vorstellen, mit Qualität zum touristischen Magneten. Finanzierungen über diverse Programme sprach sie an. Dazu gehöre nicht nur Mut, sondern vor allem mehr Zeit. Die GRÜNEN würden dem SPD-Änderungsantrag zustimmen.
- Heidemarie Scheuch-Paschkewitz (LINKE) unterstützte den SPD-Änderungsantrag ebenfalls. Mit MdL Regine Müller habe sie daran gearbeitet. Der Landesbetrieb sieht sich nicht in der Lage. Für eine Immobilie mit Fass ohne Boden könne das Land keine Schulden machen. GRÜNE und CDU sollen daher auf die Landesbehörden einwirken, damit es möglich wird, das Gebäude in öffentlicher Hand zu behalten. Keine Synagoge gehöre in private Hand! Sie ist für den Kauf trotz Verschuldung und würde lieber auf Straßenausbaumaßnahme verzichten, gerade, wenn der Antisemitismus zunimmt.
- Michael Knoche (FW) erklärte: „Wir kaufen heißt, die Steuerzahler kaufen!“ Die Synagoge sei als solche nicht mehr zu erkennen. Er sieht keinen Erfolg für den Änderungsvorschlag.
Was überwiegt: politischer oder wirtschaftlicher Schaden?
Bürgermeister Stefan Pinhard fasste noch einmal zusammen und stellt fest: Es handelte sich nicht um eine 08/15-Immobilienangelegenheit. Für das Land greife das übliche Standardprogramm zur Vermarktung herrenloser Grundstücke, es bezieht sich auf die Haushaltsordnung. Danach sollen Vermögensgegenstände nur dann erworben werden, wenn sie für Landeszwecke auch benötigt werden. Besteht ein dringendes Landesinteresse oder ist der Wert gering, kann der Minister eine Ausnahme erwirken. Der Minister sieht bisher die Ausnahme nicht.
Deutschland habe Verantwortung im Umgang. Es sind die Lebenden, die den Toten die Augen schließen und die Toten, die den Lebenden die Augen öffnen. Er erinnerte an damals unsagbares Leid und blickte in eine Gegenwart, in der fremdenfeindliche und rassistische Tendenzen europaweit erkennbar werden und Schutzsuchende unterwegs sind. Daraus erwachse eine Verantwortung in der Gesellschaft. Neben den Menschen gibt es aber auch Gebietskörperschaften. „Wenn es um die ehemalige Synagoge geht, würde ich als Privatmann sagen, lasst uns das machen. Als Bürgermeister habe ich mich verpflichtet, Schaden von der Stadt abzuwenden. Aber wie definiert man Schaden? Zählt der wirtschaftliche oder der politische Schaden? Wir wissen nicht, was das kostet. Wir wissen nicht, wie hoch das Grundstück belastet ist. Wenn man etwas erwerben will, muss das im Verhältnis stehen. Und man müsse die Kosten für Nutzungen und verschiedene Varianten vergleichen können.“
Gewinnen, verlieren, Zeit gewinnen?
- Sebastian Vogt (SPD) sah das Parlament in einer politischen Entscheidung. Das Gebäude hat historischen Wert. Er plädierte für den Zeitgewinnungsprozess, denn eine nicht öffentliche Nutzung könnte mehr Förderung bewirken. Er möchte die Erinnerungskultur der Stadt fördern.
- Auch Thomas Kölle (FRAKTIONSLOS) findet, man könne die Verantwortung nicht von der Hand weisen. Er habe aber keine Ahnung, wo die Reise hingeht. Die Landesregierung zieht sich aus der Verantwortung. Auch er ist für mehr Zeit. Das Erwachen könnte auch gegen den Kauf sein: „Wir gewinnen und verlieren dabei nichts.“
- Michael Knoche (FW) findet, das nächste Problem sei die fehlende Zeit in der Verwaltung. „Es wird nicht funktionieren!“
- Für Karin Wagner (SPD) geht es nicht darum, die Stadtverwaltung zu belasten. Vielmehr könne der Arbeitskreis Festung, die Kirchen, Vereine, Verbände den Zeitgewinn von einem Jahr nutzen. Auch sie möchte nicht auf jeden Fall kaufen.
- Heidemarie Scheuch-Paschkewitz (Linke) hat Kontakt gesucht zu Vereinen und den Hessischen Jüdischen Gemeinden. Die würden sich interessieren, mitzuarbeiten.
- Stefan Pinhard resümierte viele Telefonate mit Landesbetrieb und Ministerium. Solange kein Stopp oder Veto kommt, ist das ein normaler Vorgang. Weil es kein Vorkaufsrecht ist, können wir uns also den Kaufinteressenten nicht anschauen und wir wissen die Werte nicht für 333,7 Quadratmeter Nutzfläche. Es hängt ohnehin alles an der Entscheidung des Ministers.
Übertragung des Aneignungsrechtes – Herrenlosigkeit beendet
Die Gläubigerbank ist die einzige Instanz, die Löschung bewilligen kann. Niemand kennt die Höhe der Verschuldung. Man kennt auch den Verkehrswert nicht.
- Heiko Lorenz (FW) hat sich das Gebäude vorher angeschaut. Es sei ein wichtiges Thema für die Stadt. Sein erster Gedanke war auch, die Chance nutzen, etwas aus dem Gebäude machen. Sollte die Stadt nicht in der Lage sein, gelte es auf jeden Fall zu vermeiden, dass Gebäude in falsche Hände gerät. Er hat mit dem Makler telefoniert: 149.000 Euro Verkaufspreis seien es mal gewesen. Aber gebotene Beträge werden nicht erwähnt. Das Land wird mit der Expertise sicherstellen, dass das Gebäude nicht in falsche Hände gerät. Es solle Wohnraum entstehen. Was ihn skeptisch macht, ist, dass ein Schreiben an den Zentralrat der Juden unbeantwortet blieb. Die Stadt hat wenig Informationen gesammelt. Kostet die Sanierung 1,5 Millionen Euro? Aber für die Konfirmationsstadt sei das vielleicht auch ein gut angelegter Betrag! Man solle die Sitzung kurz unterbrechen.
- Stadtverordnetenvorsteher Reinhard Otto (CDU) schlug vor, den Änderungsantrag durch eine weitere Änderung zu ergänzen, wonach die Aneignung fallen gelassen wird, wenn alle neuen Verhandlungen des Magistrats mit Makler und Ministerium ohne Ergebnis verlaufen. „Wenn wir die zeitliche Schiene fahren, übernehmen wir das Risiko, dass Interessenten abspringen.“ Das Risiko steigt, aber die Chance wäre auch da, bundesweit im Thema Juden- und Fremdenhass etwas Besonderes zu schaffen.
Am Ende wurde nach einer kurzen Pause ohne weitere Diskussion der Änderungsantrag der SPD mit 15 : 14 Stimmen abgelehnt und anschließend der Antrag des Magistrats, sich dem Verkauf nicht zu widersetzen, mit 15 Ja-Stimmen, 5 Nein-Stimmen und 9 Enthaltungen angenommen. So wird das Gebäude in wenigen Tagen vermutlich einen neuen Besitzer haben und nicht mehr herrenlos sein. (Rainer Sander)
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2 Kommentare
Bei allem Respekt für die Vergangenheit unseres Landes und was alles geschehen ist: Es handelt sich hierbei um eine Synagoge die vor über 80 Jahren säkularisiert wurde. Es gibt keinerlei Erkennungswert. Das Gebäude wurde jahrelang als Wohngebäude genutzt (dementsprechend auch umgebaut). Der Zentralrat der Juden beantwortet nicht mal eine Anfrage und angeblich haben irgendwelche nicht näher genannten jüdischen Vereine maximal „Interesse“ mitzuwirken. Würde in irgendeinerweise tatsächlich ein Mehrwert vorhanden sein (historisch) könnte man damit wirklich Aufklärungsarbeit leisten. Aber dieses Gebäude ist wie so viele andere geistliche Gebäude die vor mehreren Jahrzehnten entweiht wurden (oder säkularisier bzw. wie es auch immer bei anderen Religionen passend heißt) einfach nur ein Gebäude. Zwanghaft mehr draus zu machen als es ist hilft doch niemanden. Das hat auch nichts mit Verdrängung oder Nichtwürdigung der Geschichte zu tun. Es ist schlicht ein altes vergammeltes Gebäude und hätte den Steuerzahler Millionen gekostet. Wenn der dringende Bedarf besteht, jüdisches Leben in Schwalmstadt zu würdigen, dann schafft innerhalb der Festung oder auch in Treysa bei einer ansprechenden Stelle mit genügend Fußgängern eine Statur, entsprechende Infotafel oder sonst etwas ansehnliches was das ganze mehr Würdigt als eine Bruchbude die keinerlei geistigen Wert mehr hat und Millionen kostet. Die einzige Erkenntnis die hier wieder bleibt ist, dass die Politiker (oder ein Teil) den Bezug zu dem Geld der Steuerzahler verloren haben. Vielen Dank an Herrn Knoche der mit „Wir kaufen heißt, die Steuerzahler kaufen!“ vielleicht noch den ein oder anderen erreicht hat. Der Kauf eines Millionengrabes ist nicht im Sinne der Bürger oder Steuerzahler.
Ihre Ausführungen sind nachvollziehbar und ich finde die Entscheidung letztendlich auch richtig. Mich stört nur ein Satz, der nicht nur von Ihnen angeführt wird, nämlich
„Das Gebäude wurde bereits vor 80 Jahren Säkularisierung (weil angeblich nur noch wenige Juden in der Stadt lebten)“
Dazu muss man wissen, was in der Schwalm in Bezug auf das jüdische Leben bereits seit Beginn der 30er abging. Da brauchte es den 8. November 38 nicht mehr. Sehr empfehlenswert das Buch von Katharina Stengel „1930-1939 Nationalsozialismus in der Schwalm“
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