Alternative Wahrheiten, Kälte und Diffamierung?
BAUNATAL | KASSEL. „Die Suche nach einem Investor für das insolvente Gertrudenstift in Baunatal kommt gut voran. Inzwischen liegen mehrere konkrete Kaufpreis-Angebote von Interessenten vor“, so lässt es Insolvenzverwalter Dr. Steffen Koch – über seinen Pressesprecher Sebastian Glaser von der Firma „möller pr GmbH“ – am 23. März verlauten.
„Seit Auftakt des Investorenprozesses Mitte Februar hat eine zweistellige Zahl von Interessenten die erforderliche Vertraulichkeitserklärung unterzeichnet und sich am Bieterprozess beteiligt. Noch immer stoßen neue Interessenten dazu“, heißt es weiter. Einen Haken gibt es schon: „In der Phase F-Einrichtung, deren Betrieb zum Monatsende eingestellt werden muss, konnte unterdessen bereits für den Großteil der Pflegebedürftigen eine Anschlussversorgung gefunden werden. Die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner hat das Haus schon verlassen.“ Monatsende ist für die zweite Hälfte ist übrigens in wenigen Tagen.
Angebote gleichzeitig abgestritten und vorhanden?
Zur Wirklichkeit gehört auch, dass bisher das Existieren von Angeboten abgestritten wurde, auch gegenüber Betreuern und gegenüber den Medien, zumindest was das Interesse an einer Weiterführung der Phase F (siehe unten) betrifft. Selbst in einer Besprechung am 22. März 2022 mit Angehörigen und gerichtlich bestellten Betreuern, hat Herr Dr. Koch deren Existenz noch bestritten. An einem Punkt ist hier die Wahrheit schwierig zu erkennen. nh24 weiß von Angeboten/Bewerbern für die Phase F, die sogar sehr kurzfristig einsteigen würden und die auch ausgerechnet haben, dass sie wirtschaftlich geführt werden kann. Die Kompetenz dafür ist in einer Insolvenzkanzlei nur bedingt zu vermuten, weil man das nicht üben kann. Die Feststellung, dass sie unwirtschaftlich ist, stützt sich daher vermutlich eher auf die eigene Kompetenz als auf objektiven Fakten?
Insolvenzverfahren sind nie schön, sie entwickeln sich grundsätzlich anders, als die Beteiligten glauben, dass sie verlaufen könnten, und letztlich werden sie immer im Interesse der Gläubiger geführt. Auch im Gertrudenstift in Baunatal.
Die Quote steht an erster Stelle
Der Insolvenzverwalter nennt seine Priorität: „Die Qualität der Angebote zeigt nicht nur, dass die Interessenten es ernst meinen, sondern auch, dass die Gläubiger bei einem erfolgreichen Abschluss auf eine gute Quote hoffen dürfen“. Na bitte! Die Quote (also der auszuzahlende Anteil an den Insolvenzforderungen) wird stimmen. Zumindest dann, wenn man die paar lästigen Bewohner der Phase F noch schnell loswird?
Wer darauf hofft, können auch wir nur vermuten. Aus früheren Presseterminen, auch zur Eröffnung der Phase F, bei denen teilweise offen über die Finanzierung gesprochen wurde, weiß nh24, dass unter anderem Banken, wie die Kasseler Sparkasse, Darlehensgeber waren. Solche Darlehen werden üblicherweise im Grundbuch abgesichert. Durch das Insolvenzgeld rückt die Bundesagentur für Arbeit in einer „Firma“ mit erheblichem Personalkostenanteil (laut Statistik in Pflegeeinrichtungen bei 75 %) in der Rangfolge der Gläubiger meist ebenfalls in eine „Spitzenposition“. Da die Einrichtung, was betont wurde, rechtzeitig Insolvenz angemeldet hat, dürfte die Liste der übrigen Insolvenzforderungen folgerichtig überschaubar sein. Wenn das eigentliche Insolvenzverfahren eröffnet wird, steht die vorläufig angemeldete Summe fest.
Keine Wohltätigkeitsveranstaltung
Insolvenzverfahren sind keine Wohltätigkeitsbasare und Insolvenzverwalter nicht die Urenkel von Sankt Nikolaus. Das müssen sie auch nicht sein. Meistens beschäftigen sie sich mit zahlungsunfähigen Handwerksbetrieben, oder auch – wie im Fall der in der Gertrudenstift-Insolvenz beauftragten – Kanzlei „hww“ – insolventen Touristik-Konzernen. Um das Seelenleben einer Oberfräse oder eines Airbus A320 muss man sich tatsächlich weniger Gedanken machen. Wer da fräsen oder fliegen wird, ist am Ende zweitrangig. Diejenigen, die eine Urlaubsreise gebucht haben, kann man umbuchen, und wer beim Schreiner einen Sarg bestellt hat, nimmt ihn auch vom Insolvenzverwalter, wenn dieser den Betrieb weiterführt…
Im Falle des Gertrudenstifts in Baunatal liegen die Dinge etwas anders. Die Bewohner – insbesondere der Phase F – sind von Särgen weit entfernt und weil das Gertrudenstift ihr Zuhause geworden ist, lassen sie sich auch nicht einfach „umbuchen“.
Eine Frage der Haltung
Am Ende ist es immer eine Frage der Einstellung, wie man mit Menschen umgeht und was man zurücklassen will. Es geht immer so und also auch immer anders. Insolvenzverwalter sind naturgemäß nie die Freunde der insolventen Firma, der Kunden oder der Beschäftigten. Sie stehen aufseiten der Gläubiger, woran durch die Betonung der Quote auch keine Zweifel aufkommen. Und weil sich die Höhe ihres Honorars am Volumen der eingesammelten Insolvenzmasse bemisst, stehen Insolvenzverwalter in erster Linie auch auf ihrer eigenen Seite. Das ist die Rechtslage und darüber muss man sich nicht aufregen. Es hilft aber zu wissen, dass es so ist. Es ist – wie zuvor erwähnt – lediglich eine Frage der inneren Haltung…
Pflegebedürftige sind nicht einmal richtige Kunden. Sie zahlen nämlich nur einen kleinen Beitrag selbst. Man kann auch nicht ohne Verhandlungen mit Pflegekassen und Sozialämtern die Preise erhöhen. Es wäre aber theoretisch möglich. Im Gertrudenstift gibt es 99 Pflegeplätze im klassischen (Senioren-) Pflegeheim und 30 Pflege-Plätze in der Phase F, auch „Junge Pflege“ genannt. Gemeint ist damit ein Personenkreis, der von seinem Lebensalter her nicht in ein Altenheim gehört und trotzdem gepflegt werden muss. Darunter sind unter anderem Menschen, die nach einem Motorradunfall oder ähnlichen Schicksalsschlägen, vielleicht querschnittsgelähmt, nicht mehr in der Lage sind, sich selbst zu versorgen. Und immer dann, wenn es keine Angehörigen (mehr) gibt oder aber diese mit der Pflege überfordert sind, weil sie vielleicht selbst schon in einem „pflegebedürftigen Alter“ sind, ist es unausweichlich, in eine Phase F-Einrichtung zu gehen.
Inklusion kennt keine Insolvenz – Insolvenz kennt keine Inklusion
Damit ist aber nicht ein Ort am Ende der Welt gemeint. Auch junge Pflegebedürftige wollen ihre Angehörigen gerne in der Nähe haben und von ihren Freunden besucht werden. Das gilt umgekehrt selbstverständlich auch! Angesichts dessen hat man neben – oder im Zuge – der Inklusion bundesweit das Prinzip der wohnortnahen Versorgung eingeführt. Im Falle einer Pflege- oder Betreuungsbedürftigkeit soll es eigentlich nicht mehr nötig sein, die gewohnte Heimat verlassen zu müssen. Das ist schlicht das, was unser Leben ausmacht und für nicht behinderte Menschen ohne Zweifel gilt. Zumindest können sie darüber selbst entscheiden.
Nun hat Herr Dr. Koch von der Insolvenzkanzlei „hww“ nun einmal festgestellt, dass die Junge Pflege sich nicht rechnet. So wie sie vor der Insolvenz belegt und bisher (weiter-) geführt wurde, ist sie sogar verlustträchtig. Deshalb wird sie geschlossen. Viele Bewohner dieser Einrichtung haben gerichtlich bestellte Betreuer. Das sind – bis auf Ausnahmen – keine Berufsbetreuer, sondern nahe Angehörige, also oft Eltern oder Geschwister, die das ehrenamtlich tun. Diese Menschen sind in den Pflegeprozess eingebunden und könnten – weil sie manchmal altersbedingt schon selbst mit körperlichen Einschränkungen leben oder noch voll berufstätig sind – ihre pflegebedürftigen Betreuten nicht mehr sehen, würden sie aus der Not heraus, jetzt 100 oder 200 Kilometer entfernt den nächsten freien Platz finden. Danach sieht es für viele aus.
Ein bisschen Druck machen und Betreuern Untätigkeit vorwerfen?
Weil das Ganze nicht schnell genug geht, hat die aktuelle Geschäftsleitung kurzerhand fast alle ehrenamtlichen Betreuer, also die nahen Verwandten, beim zuständigen Amtsgericht kollektiv angeschwärzt, mit dem Vorwurf der Untätigkeit in Bezug auf ihre Betreuungspflichten. Ein Ziel könnte sein, dass das Gericht stattdessen Berufsbetreuer einsetzt und möglicherweise Verfahren gegen die ehrenamtlichen Betreuer einleitet? Das sieht jedenfalls nicht nach „Freunde bleiben“ aus. Das erinnert mit etwas Fantasie an „Entmietungsmethoden“ im Wohnungs-Renovierungs-Dschungel.
Spätestens hier lässt sich der wahre Wert der Quote erahnen. Natürlich blüht bei solchen Methoden genau diese Fantasie und mancher mag spekulieren, ob ein möglicher Investor, der nur Altenpflege kann und nichts anderes will, bereit ist, mehr zu zahlen als andere Investoren, die gerne alles zusammen weiterbetreiben würden, also auch die Phase F? Das hat Dr. Koch gegenüber nh24 verneinen lassen. Allerdings ist eine international tätige Firma für Unternehmensverkäufe maßgeblich eingebunden und es wurde eben gesagt, es gäbe keine Angebote und gleichzeitig eine Pressemitteilung verfasst, in der von ganz vielen Angeboten die Rede ist. Diese Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse irritiert mächtig…
Jetzt droht Obdachlosigkeit
Eine der bereits involvierten Berufsbetreuerinnen ist Frau Ursula Gimmler. Die frühere Bürgermeisterin aus der Nachbargemeinde Schauenburg hat eine lange Liste von Absagen für ihren Betreuten, kann also beweisen, dass es nicht betreuerisches Unvermögen ist, keine alternative Unterbringung zu finden, sondern der Markt einfach keine adäquaten Plätze zu bieten hat. Sie steht kurz davor, ihr Recht auf Ersatzvornahme geltend zu machen, weil ihrem Klienten die Obdachlosigkeit droht. Dann müssten Heimaufsicht, Kostenträger oder die Stadt für eine Unterbringung sorgen, im Zweifel in der jetzigen Unterkunft? Da es sich nicht um eine gewöhnliche Obdachlosigkeit handelt, ist zumindest die Stadt Baunatal aus der Nummer raus. Eine Wohnung als Alternative reicht definitiv nicht.
Aus Sicht der Heimaufsicht beim Versorgungsamt ist übrigens alles in Ordnung. Ein Träger könne jederzeit den Betrieb einstellen, heißt es aus Gießen. Im Verfahren fallen argumentersetzend gelegentlich Sätze wie „die Entscheidung liegt bei den Gläubigern“ oder „das hat das Gericht entschieden.“ Formal ist das immer so, aber ich weiß nicht, wie häufig in Insolvenzverfahren tatsächlich anders verfahren wird, als der Insolvenzverwalter vorschlägt. Außer, wenn der Insolvenzverwalter auf der Kippe steht. Nichts deutet darauf hin, dass hier gegen ein Recht verstoßen wird! Es gibt nicht mal ein Gesetz, das verbietet, zwei Wahrheiten gleichzeitig auszusprechen. Allerdings auch keins, dass das Recht einschränkt, sich darüber zu wundern.
Ein bisschen wie Handelsgüter
Man kann ein Insolvenzverfahren also genau so führen. Und wenn sich Betroffene im Verfahren jetzt Ärgern, dass so geredet und geschrieben wird, wobei wir nur abgemildert und verkürzt wiedergeben, was ohnehin in der Diskussion ist, hilft ganz bestimmt ein Gedanke an die betroffenen Bewohner der Phase F, über die gerade genauso offen wie Handelsgüter gesprochen wird, deren Pflege sich nicht rechnet, deren Eltern oder Geschwister sich strafbar machen und ausgetauscht gehören und dass es gerade völlig ok ist, dass sie ihr Zuhause nicht mehr frei wählen können, sondern nehmen müssen, was der Markt an Resten bereithält. Ich vermute, es gibt sehr wenige Menschen, die Freude dabei empfinden, so behandelt zu werden.
In der kommenden Woche kommt der Gläubigerausschuss zu Entscheidungen zusammen. (Rainer Sander)
1 Kommentar
Seit 4 Jahren steht das Gertrudenstift immer nur negativ in den Schlagzeilen. Seit 2 Jahren massiv, aber das heute schlägt dem Fass den Boden aus! Wenn man, wie ich, das Haus nur aus der Zeitung kennt und ein bissel recherchiert gibt man in den gesamten Komplex keinen einzigen Angehörigen mehr! Und das Schlimme dabei ist, dass dort sicher unter dem „kleinen“ Personal sprich Pflege, Reinigung und Küche gut qualifizierte Kräfte stecken, welche unter dem Ganzen massiv leiden!!!
Personal wird doch psychisch völlig verheizt, das dies keiner merkt und die Geschäftsführung immernoch Handeln darf, ist für mich absolut unverständlich!
Ein christliches Haus mit einer Geschäftsführung, welche von Nächstenliebe keine Ahnung hat, hat in dieser Position nichts zu suchen!
Auch wenn Zahlen wichtig sind, wie kann es sein, das man Betreuer/Angehörige so anschwärzt.
Die Geschäftsführung sollte sich mal die Frage stellen ob sie ihre liebenden Angehörigen /Kinder in eine Einrichtung, welche 100 km und mehr weit weg ist, geben würde! Vor allem wenn man kein Auto hat….
Finanzell bei den Spritpreisen mal ganz abgesehen….
Liebe Geschäftsführung, ich empfehle Ihnen dringend sich ein Job zu suchen wo Sie NICHTS mit Menschen zu tun haben!!!
Kommentare wurden geschlossen.