Gedenken an den 9. November 1938 in Gudensberg
GUDENSBERG. Es gibt Rituale, die nicht an Aktualität verlieren und nicht weniger beeindrucken, ganz gleich, wie oft sie wiederholt werden. Die Erinnerung an den 9. November 1938 ist eine solche „Wiederholung“. Es war der Tag des Übergangs von der Diskriminierung zur Ermordung, wie Gudensbergs Bürgermeister Frank Börner am Dienstagabend beeindruckend schilderte.
Dass dieser Tag den Bürgermeister Jahr für Jahr beeindruckt, brachte er auch im Kontext zum Ausdruck. Der Schicksalstag der Deutschen, der Novemberrevolution am 9. November 1918 und dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 ist der Symboltag für die Missachtung von Menschen- und Freiheitsrechten, geschichtlich „eingebettet“ in zwei Ereignisse, die Aufbruch und Demokratie markieren.
Gedenkfeier unter freiem Himmel
Coronabedingt war eine Versammlung in der engen, ehemaligen Synagoge, die seit 1995 als Ort der Erinnerung zum Kulturhaus wurde, nicht möglich. Die Gedenkstunde fand unter freiem Himmel und nicht nur an einer Stelle statt. In den Straßen der Altstadt erinnern viele Stolpersteine, die am Dienstagabend den Weg der etwa 50 Besucher markierten, an einst jüdisches Leben in der Chattengau-Metropole.
Dem gleichen Abend vor 83 Jahren gingen jahrelange Denunziationen, Verunglimpfungen und Schuldzuweisungen voran. So war der 9. November im letzten Vorkriegsjahr nicht der Anfang der Verfolgung einer Bevölkerungsgruppe. Frank Börner erinnerte an 1400 zerstörte oder beschädigte Synagogen, viele Tausend verwüstete Geschäfte, 400 ermordete und zahlreiche in den Suizid getriebene Juden in der Pogromnacht.
Juden gab es in Gudensberg am 9. November nicht mehr
Getrieben von einer staatlich beflügelten Verschwörungs- und Schuldtheorie über die Ursache fast aller Probleme im eigenen Land – und auf der ganzen Welt –, hatte nicht erst der Mob auf der Straße spontan die Initiative ergriffen. Im irrationalen Glauben an eine pseudowissenschaftlich konstruierte Wahrheit hatten Nationalsozialisten und alle, die ihnen folgten oder glaubten Ihnen folgen zu müssen, in Gudensberg bereits vorher ganze Arbeit geleistet. „Gudensberg ist judenfrei!“ Diesen Satz konnten die Stadt und ihre starke NSDAP-Gruppe, als eine der ersten in Deutschland, bereits im Mai 1938 melden.
Bis dahin hatten 194 jüdische Mitbürger in der Stadt gelebt, die allesamt „umgesiedelt“ oder deportiert wurden. Viele von Ihnen, wie Frank Börner erinnerte, hatten längst ihre Existenzgrundlage verloren, weil niemand mehr bei ihnen kaufte oder Kontakt mit ihnen pflegte. Die Synagoge war inzwischen in Privatbesitz übergegangen, weshalb ihr die Zerstörung in der Pogromnacht erspart blieb.
Rundgang zu den Stolpersteinen
Vermutlich nur deshalb kann die Stadt diesen Ort des Gedenkens, wie der Bürgermeister ihn bezeichnete, als Kulturstätte bewahren. Durch die Stolpersteine, die inzwischen vor vielen Häusern an ihre einstigen jüdischen Bewohner erinnern, bleibt das Gedenken in der gesamten Stadt und in ganz Deutschland – dank mehr als 75.000 dieser kleinen gravierten Metallplatten – erhalten. Unaufdringlich, ohne selbst zu bewerten, weisen sie lediglich darauf hin, wer hier einmal sein Zuhause hatte, das nur verloren ging, weil es funktioniert hat, den „Volkszorn“ in eine fatale Richtung zu lenken. Wenn Frank Skischus von der Entstehungsgeschichte der Stolpersteine und jüdisches Leben in Deutschland erzählt, wird zwischen den Worten schnell deutlich, dass es nicht nur eine Hand voll weniger gewesen ist, sondern viele Menschen notwendig waren, um jüdischen Geschäftsleuten die Existenzgrundlage zu nehmen und Familien, die bis dahin ganz selbstverständlich in die Gesellschaft integriert waren zu verunglimpfen, um sie schließlich – ohne gesellschaftlichen Widerstand – aus der Geschichte zu tilgen.
Dass dies, trotz Millionen von Toten nicht vollständig gelang, ist einigen wenigen im eigenen Lande und letztlich der der Selbstüberschätzung angesichts zunehmender Entschlossenheit der Weltgemeinschaft zu verdanken.
Erinnerung an jüdische Familien
Ein Teil der Normalität war auch das Ehepaar Markus und Veilchen Elias aus der Hornungsgasse, der ersten Station des Rundgangs durch Berg. Ab 1933 begannen die körperlichen Übergriffe, die die Familie schließlich zum Wegzug zu ihrer Tochter Helene nach Hamburg bewogen hatten. Markus Elias verstarb dort infolge der in Gudensberg erlittenen Misshandlungen, Veilchen Elias wurde 1942 im Konzentrationslager Treblinka ermordet. Die Schülerinnen und Schüler der GAZ-Gesamtschule zündeten für alle dieser Opfer eine Kerze an. Für alle, deren Namen bekannt sind für alle, deren Verbleib noch nicht recherchiert ist. Jeder Stolperstein, so Frank Skischus, ist die Erinnerung an eine Person in ihrem Haus. (rs)