Schwalmstadt dank „Ganz Großer Koalition“ ohne „STRABSe“
SCHWALMSTADT. Nicht alles, das rechtmäßig ist, ist auch gerecht und nicht alles, was gerecht ist, ist zugleich rechtmäßig. Dieser einfachen Philosophie folgt jede Diskussion um Straßenausbaubeiträge in Schwalmstadt seit nunmehr etwa 5 Jahren. Die einen wollen schon 2017 einen Antrag gestellt haben, die anderen sogar 2016.
Wenn eine Straße, die viele Menschen befahren nur von den Anliegern bezahlt wird, wirkt das zumindest nicht gerecht (…) und wenn es sich dabei um hohe fünfstellige Beträge handelt, ist es auch nicht mehr lustig. Wenn die Beträge nach oben gedeckelt, was zumindest gerechter wirkt, so ist dies nach verbreiteter Juristen-Meinung nicht rechtmäßig. Juristen hatten alle Kompromissvorschläge „abgeräumt“. Schafft man sie ab, ist es für die Stadt nicht gerecht, schon gar nicht, wenn dafür am Ende die Grundsteuer erhöht wird. Die Stadt müsste dann die höheren Einnahmen selbst „versteuern“, in Form höherer Umlagebeiträge. Was für die einen gerecht ist, kann für andere durchaus ungerecht sein.
Auch Straßen haben eine Lebensdauer
Vier oder fünf Jahre nach den ersten Anläufen hat die Stadtverordnetenversammlung in Schwalmstadt die Straßenausbaubeiträge gestern Abend abgeschafft, wobei noch einmal alle Argumente auf den Tisch kamen, und alle heißt Alle. Quasi eine Abtreibung nach 60-monatiger Schwangerschaft.
Bürgermeister Stefan Pinhard (PARTEILOS) wolle nicht die Bürger ärgern, aber das Straßennetz von mehr als 200 Kilometern – ohne Bundes-, Landes- und Kreisstraßen – mache Schwalmstadt nicht vergleichbar mit anderen Kommunen. Man könne eine Straßen-Lebensdauer – welch ein Wort (!) – nicht ewig verlängern. Seriös gerechnet müssten jedes Jahr 4 Kilometer Straße erneuert werden. Dafür sei oft schon kein Geld in der Kasse gewesen. Finanziell wäre die Abschaffung der Straßenausbaubeiträge doppelt schädlich. Einmal weil Einnahmen fehlen, und noch einmal, weil haushaltstechnische Nachteile entstehen. Natürlich könne man Darlehen aufnehmen. Bei genehmigungspflichtigen Haushalten sei das aber ein Problem. Zahlungen aus dem kommunalen Finanzausgleich würden sich für Schwalmstadt verringern und sollte die Grundsteuer angehoben werden, müsste Schwalmstadt mehr Kreis- und Schulumlage bezahlen. Weil das im Gegensatz zu Gebühren, die in einem Gebührenhaushalt erfasst werden, als Einnahmen gelten. Liegenschaften vom Kreis oder dem Land würden zudem nicht mehr an den Kosten beteiligt. Mieter würden auf diese Weise ebenfalls höher belastet. Auch bei unangenehmen Dingen müsse man umfassend informieren.
Die Rückkehr der Polarität und der Mantras
- Karsten Schenk (CDU) stellte gequält erheitert fest: „ja, da sind sie wieder, die zwei Sichtweisen. Schon X-Mal habe man darüber gesprochen. Seit 2017 würden Anträge gestellt und nichts beschlossen. In den letzten Jahren habe die Stadt stets 160.000 Euro Anliegerbeiträge generiert. Das wäre also der Betrag, der zukünftig nicht mehr eingenommen wird. Der Bürgermeister rechnet anders. Am Ende waren rechtliche Bewertungen „immer nicht umsetzbar“. Die CDU, so Schenk, habe wiederkehrende immer ausgeschlossen. Es entstünde dabei ein Verwaltungsmonster. Selbst wenn die Bürgermeister-Zahlen stimmen, lägen die Ausfälle bei 1% des Haushaltsvolumens. Das sollte in der Reserve vorhanden sein. Die meisten Kommunen gingen inzwischen diesen Weg.
- Bürgermeister Stefan Pinhard (PARTEILOS) erwiderte: andere Kommunen, die diese Entscheidung getroffen haben, steuern inzwischen entgegen.
- Thomas Kölle (FRAKTIONSLOS) kann das Mantra des Bürgermeisters nicht mehr hören: „Herr Bürgermeister, sie sind nicht verantwortlich, denn das Parlament entscheidet!“
- Daniel Helwig (SPD). Sieht das ganze anders: „wir, SPD und BÜNDNIS 90/GRÜNE finden, es muss für alles eine Gegenfinanzierung geben.“ Es würde zu einer Steuererhöhung kommen. Diese sei ungerecht. Die öffentliche Hand und beispielsweise die Bahn müssten nicht mehr bezahlen. Deshalb sei die SPD für wiederkehrende Straßenausbaubeiträge. Viele Städte, wie Neustadt, täten dies so: „Das ist umsetzbar und solidarisch.“
Leistung ein Grundstück mit Fahrzeugen zu erreichen hat hohen Wert…
- Ulrich Wüstenhagen (B90/GRÜNE) findet es verwunderlich, dass zum dritten Mal über einen Antrag abgestimmt wird, der schon zweimal angelehnt wurde. Bei der Informationsveranstaltung habe er viele Kollegen vermisst, als er das Fazit mitgenommen hat, dass Straßenausbaubeiträge dafür sorgen, dass der Bürger sowieso zahlt. Mehr Gerechtigkeit würde am Ende zu mehr Ungerechtigkeit führen. Auch er vermutet eine Erhöhung der Grundsteuer. Straßenausbaubeiträge seien aber keine Abzocke. Es werden Leistungen erbracht, zum Beispiel um das Grundstück mit einem Fahrzeug zu erreichen. Warum soll die Stadt den Anwohnern einer Straße eine Leitung kostenlos gewähren? Daher sind auch die GRÜNEN für wiederkehrende Straßenausbaubeiträge.
- Heidemarie Scheuch-Paschkewitz (LINKE) erinnert sich daran, schon seit 2016 darüber zu diskutieren. Auch sie reklamiert für die LINKE, den ersten Antrag gestellt zu haben. Das System sei zutiefst ungerecht. Wer beispielsweise in der Burggasse wohne, die alle Bürger der Stadt benutzen, können das als Anwohner nicht allein bezahlen. Ihre Auffassung: „Straßen gehören zur kommunalen Daseinsversorgung.“ Endlich solle man die Abschaffung versuchen, „das sind wir den Bürgerinnen und Bürgern schuldig!“
- Georg Stehl (BfS) erinnert daran: „Wir sind mit dem Ziel angetreten sie abzuschaffen und werden zustimmen!“ Das ist insofern bemerkenswert, als Stefan Pinhard sich von dieser Partei die größte Zustimmung erhofft hat.
Kreativlosigkeit bei Bürgermeister und Verwaltung erschüttert die FDP
- Dr. Constantin Schmitt (FDP) findet die Polarisierung traurig: „Wir haben im Parlament einen Vertrauensbruch erlebt“. Die FDP hätte sich eine Lösung gewünscht, in der jeder Bürger einen Beitrag zahlt. Er vergleicht Schwalmstadt: „Wir stehen im Wettbewerb mit anderen Gemeinden“. Wer hier investiert, sollte nicht gleich höhere Kosten befürchten müssen. Der Appell an Bürgermeister und Verwaltung: „machen Sie es sich nicht so einfach. Die Verwaltung hat sicher die Fantasie, wie sie über Digitalisierung und Vereinfachung 1 % im Haushalt einsparen kann. Wir empfinden es als extrem traurig, dass die intelligenten und kreativen Köpfe in der Verwaltung nur mit Steuern drohen können. Das erschüttert uns.“
- Stephan Pinhard: 500.000 Euro sind nur 1 %, aber es geht vieles ab und von dem, was die Stadt selbst beeinflusst, ist der Prozentsatz wesentlich höher. Man könne eine Abschaffung mehrere Jahre im Haushalt verstecken, aber nicht ewig.
FW: aufhören zu jammern – SPD: Kein Stadion, keine Feuerwehr, keine Jugendarbeit?
- Heiko Lorenz (FW) erklärt für die Freien Wähler, dass sie dem geänderten Antrag der CDU zustimmen werden, und wundert sich unverändert, dass man sich an Haushaltssituationen so abarbeiten kann. Über die Bunderepublik Rolle eine Welle der Abschaffung und oft sei die SPD dabei die tragende Kraft. In Wiesbaden wollte die SPD die Straßenausbaubeiträge sogar per Landesgesetz abschaffen, „mit einer Begründung, die gleichlautend ist, wie unsere Anträge.“ Jetzt solle man aufhören zu Jammern!
- Patrick Gebauer (SPD) hat seine Variante dazu: die SPD fordert überall die Abschaffung und gleichzeitig die Finanzierung aus Landesmitteln. Das Geld müsse schließlich irgendwo herkommen. Und dann malte er mehrere Teufel an die Wand: der Neubau im Stadion, die Feuerwehren, und vieles andere könnte jetzt nicht mehr gebaut werden, auch die Jugendarbeit wird sich die Stadt nicht mehr leisten können.
- Heiko Lorenz (FW) äußerte sich ein weiteres Mal: „Irgendwann sind wir die letzte Kommune in Deutschland, die noch Straßenbeiträge erhebt.“
Nach Jahren des Streits Minuten der Überlegenheit
Zur Abstimmung Stand schließlich ein „Vereinigter Antrag“, der sogar zurückreicht bis ins Jahr 2018. Ab diesem Zeitpunkt erhebt die Stadt keine Straßenausbaubeiträge mehr. Nun liegt es an Magistrat und Verwaltung, das Ausstiegsszenario in eine Satzung zu kleiden. Mit nur 12 Nein-Stimmen aus den Reihen von SPD und GRÜNEN aber 22 Ja-Stimmen aus der „Ganz Großen Koalition“ von CDU, FW, BfS, FDP und LINKER wurde die Ära der Straßenausbaubeiträge in der Konfirmationsstadt zu Grabe getragen.
Die Uneinigkeit über die Gerechtigkeit bleibt. Das Parlament hat gestern Abend die Variante der Gerechtigkeit für Anlieger gegenüber allen Nutzern der Straße gewählt und die Gerechtigkeit für die Stadt offensichtlich nicht in den Vordergrund gestellt. Die einen wissen genauso, dass es unklug ist, wie die anderen, wissen, dass es klug ist. Aber wer sind die Einen und wer sind die Anderen? (Rainer Sander)
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