FRIELENDORF. Ich versuche gerade zu zählen, wie viele Autobahnen in Deutschland durch friedliche Proteste verhindert wurden. Ich komme auf genauso viele, wie durch gewalttätige Proteste verhindert wurden: keine…
Es gibt allerdings immer wieder Menschen, die felsenfest davon überzeugt, die Ersten zu sein, die mit Menschenketten, Unterschriftensammlungen, Demonstrationen und Diskussionsrunden „Vernunft“ in ihrem Sinne aktivieren können, die dann eine Autobahn verhindert. Weil jetzt endlich die Argumente klar sind. Die ganz Kreativen malen gerade in Gießen Kreuze auf Autos, um diese irgendwann „abfackeln“ zu können, ganz so, wie Bäume zum Einschlag markiert werden. Andere fahren eben mit dem Fahrrad auf der Autobahn, die dafür sogar gesperrt wird. Schade ist es stets, wenn durch die Gewalt der einen, der Friede der anderen nicht mehr ernst genommen wird…
Zwischen humorvollen und fantasievollen Aktionen und gewalttätigen Exzessen bleibt nur noch ein schmaler Grat. „Wir haben vorerst eine Menge großspurige Karren mit einem Streifen Farbe gekennzeichnet. Dies analog zu den Markierungen von Bäumen im Dannenröder Wald und anderswo, die wegen des nicht nachvollziehbaren und unzeitgemäßen Lückenschlusses der A49 gefällt werden sollen“, so rechtfertigen die „Sprayer“ ihre Aktion. Fotos zeigen unter anderem einen „großspurigen“ Audi A1. Das ist ein Kleinwagen, wie ihn beispielsweise die Krankenschwester fahren könnte, die sich keine Versicherung gegen Vandalismusschäden leisten konnte, aber die irgendwann vielleicht – nach einer Eskalation der Aktion, genau denjenigen gesund pflegen muss, der ihr Auto abgefackelt hat…
Wie im Film?
Im Film würden sich Sprayer und Krankenschwester ineinander verlieben, sie nie wieder Autobahn fahren und er der Gewalt abschwören… In der realen Welt ist das anders: „Die Aktion mit der Lack-Spraydose wird gerechtfertigt: „Als besorgte Menschen sehen wir uns aber dem rechtfertigenden Notstand verpflichtet“ Genau so steht es in der Aufforderungsmail, die aus dem Darknet heraus verbreitet wurde. Von Notstand sprechen die gewaltbereiten, besorgten Menschen, der im Grunde alle Maßnahmen rechtfertigt. Das könnte – wie in Schwalmstadt bei Brandanschlägen gegen Baustellenfahrzeuge offensichtlich versucht – auch den einen oder anderen Toten erlaubt? Besorgte Menschen? Kommt mir irgendwie bekannt vor: stimmt! Rechts von der A49 heißen die aber doch besorgte Bürger, oder nicht?
Bei dem Gedanken, dass jeder, der sich in einer Notlage fühlt, daraus das Recht ableitet anderer Leut‘s Eigentum zu verbrennen oder solche am besten gleich um die Ecke zu bringen, könnte einem schon mulmig werden. Erst recht in einer Zeit, in der jeder vor irgendetwas Angst hat und sich irgendwie bedroht fühlt. Der eine von Flüchtlingen, andere von Atemschutzmasken, wieder andere „nur“ von Nachbarn, die zu laut sind, oder falsch parken oder von Kindern, die auf der Straße schreien. Sogar von Kindergärten, die in der Nähe gebaut werden sollen, geht Gefahr für die Lebensqualität durch Lärm und Feinstaub aus, sagen die, die jeden Tag ihre Kinder mit dem Auto bis vor die Schultüre fahren. Oder eben von Autobahnen…
Jeder gegen Jeden?
Genauso wie Pegida aushalten muss, dass man Geflüchtete nicht einfach im Mittelmeer ersäufen und hier ihre Häuser anzünden kann, wie Neonazis ertragen müssen, dass man Juden eben nicht auf der Straße oder in der Synagoge umbringen kann, wie radikale Muslime ertragen müssen, dass Nicht-Muslime hier eben nicht einfach erstochen werden können und nicht als Ungläubige gelten, müssen Autobahngegner ertragen, dass Autobahnen gebaut werden. Schon deshalb, weil die weitaus größere Mehrheit nichts dagegen und ziemlich viele sie sogar gut finden. Andererseits dürfen Autobahngegner auch sagen, dass sie Gegner sind, ohne dass ihnen im Internet ihrerseits der Tod oder lebenslange Haft gewünscht wird, nur weil sie von ihrem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen.
Gleiche Worte, gleiche Taten, gleiche Denke?
Den Unterschied zu begreifen, zwischen Meinung sagen und Meinung durchsetzen, ist allerdings verdammt schwer und steht weder auf dem Lehrplan deutscher Schulen noch im Erziehungsleitfaden deutscher Kinderstuben. Die einen sagen, man kann ja hier nicht alles sagen, während sie sagen, was sie angeblich nicht sagen dürfen und die anderen meinen, dass man ihnen nicht zuhört und sie deshalb den Notstand ausrufen müssen.
Vieles spricht dafür, dass es nur eine winzige Kleinigkeit während der Radikalisierung gewesen sein kann, die darüber entschieden hat, ob jemand dann schließlich den ausgestreckten Arm, mit ausgestreckten Fingern, im 45 Grad Winkel nach vorne streckt oder den angewinkelten Arm, mit geballter Faust, im 90 Grad Winkel nach oben. In Gesichtsausdruck, dem Ergebnis ihrer Aktionen und inzwischen auch in ihren Worten, unterscheidet sich das meistens gar nicht (mehr). Dann ist es auch nicht verwunderlich, dass auf den Anti-Corona-Demos Nazis, Rotfront-Kämpfer, Alt-68er, Friedens- und Umweltaktivisten (wer immer sich so fühlt) so friedlich nebeneinander laufen….
Ihr
Rainer Sander
1 Kommentar
Gut geschrieben und völlig richtig
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