Das Herzberg-Festival ist zu Ende gegangen
BREITENBACH AM HERZBERG. Dass das Burg Herzberg Festival anders ist, hat sich in den 51 Jahren seit der ersten Ausgabe 1968 herumgesprochen. Aber was ist dieses „Anders“? Dafür, dass es nicht der Ort einer Handvoll verrückter und in der Hippiezeit haften gebliebener Spinner ist, ist die Handvoll mit 11.000 Besuchern auch zu groß und eigentlich ist auch der Herzberg ein Spiegel der Gesellschaft.
Natürlich gibt es auch unter Freaks und Hippies Menschen, die Ausländer nicht mögen. Es gibt sie, die mutmaßlichen „Spießer“, die mit dem der Daimler-Limousine vorfahren, ihre Krawatte in den Koffer packen, die bunt bestickte Schlaghose herausholen und ins Zelt kriechen. Aber auf der anderen Seite auch diejenigen, die einen alten Daimler Bus oder Lkw zum Wohnmobil umgebaut haben und unterwegs sind. Es gibt auch strenge Regeln für die Festivalbesucher, wie an jedem anderen Ort, wo sich viele Menschen begegnen, selbst dafür, was den Umgang mit Drogen betrifft, die man hier – zu Recht oder zu Unrecht – in höherem Maße vermutet. Und es gibt auch hier Menschen, die sie akzeptieren und solche, die erst einmal gegen alle Regeln sind. Wie im „richtigen“ Leben also.
Aussteiger oder Einsteiger?
Und trotzdem fühlt man sich in Freak-City, vor der Hauptbühne oder zwischen den unzähligen Ständen mit bunten Sachen und exotischen Produkten wie in einer anderen Welt. Es ist nicht das Festival der Aussteiger, was es auch nie war, sondern eines der Einsteiger in eine (mehr oder weniger) konstruktiv-kritische Auseinandersetzung mit der realen Welt.
Wer zum Herzberg-Festival fährt, verlässt die Realität nicht, betrachtet sie aber definitiv anders. Während sich junge Menschen in der Leitungsgesellschaft auf der Suche nach höherer Leistungsfähigkeit mit Aufputschmitteln, Energy-Drinks und pausenlos Koffein vollpumpen, in der Spaßgesellschaft mit Eiweißpräparaten und Mitteln, die auf jeder Dopingliste stehen im Fitnessstudio künstlich „aufpimpen“ oder – wenn das alles nichts nutzt – auf Mega-Partys – im Alkohol-Exzess alles ersaufen, wirkt es am Herzberg sehr angenehm, keine betrunkenen Menschen zu treffen und in keine Scherben von im Suff zerbrochenem Glas treten zu müssen. Klar gibt es ein paar Menschen mit glasigem Blick. Die begegnen uns in der Welt außerhalb des Herzbergs aber auch. Dass zeitgleich VIVA-Willingen stattfindet, ist das reale nordhessische Kontrastprogramm. Die einen so, die anderen anders und am Ende gibt es nicht nur eine Wahrheit auf diesem Planeten…
Ein positiver Grundkonsens
Der Herzberg lebt von dem Grundkonsens, dass Auseinandersetzungen ohne Hass und Gewalt möglich sind, dass es lohnt die Welt vor Wer vier Tage am Herzberg ist, gewinnt schnell den Eindruck, in der eigentlichen Welt zu sein und anschließend wieder in den künstlich erzeugten Wahnsinn zurückkehren zu müssen. Es gehört zu unserer Realität, nachhaltiger leben zu müssen, auf lieb gewonnenes zu verzichten und zu erkennen, dass es wichtigeres gibt als materielle Reichtümer.
Es gibt andere Reichtümer und die spürt nach vier Tagen am Herzberg auch, wenn man das eigentlich irreale nicht längst zur Realität erklärt hat.
Von Woodstock bis Burg Herzberg
Dass Graham Nash am letzten Tag des Festivals nach Breitenbach kam, war tatsächlich ein besonderes Erlebnis für die Festivalbesucher. Crosby, Stills & Nash hatten auf dem Woodstock-Festival ihren zweiten gemeinsamen Auftritt (nach teilweise schon jahrelangen Wegen in anderen bekannten Bands) und stehen für einen Aufbruch zum Nachdenken über diese Welt. Und Nachdenken hat bisher noch nie jemandem geschadet.
Pünktlich zum Auftritt von Graham Nash kam der Regen zum Herzberg und mit ihm die Chor-Rufe der 11.000: No rain, no rain. „Ist das hier Woodstock, fragte Graham Nash, in Anspielung auf die „Regenbeschwörung“ beim Sanatana-Konzert während des legendären Festivals.
Botschaften aus 60 Jahren Bühnenpräsenz
Der Regen ließ nach und das hätte er vermutlich auch getan, wenn der Chor nicht gerufen und Graham Nash nicht gesungen hätte. Allein die Botschaft bleibt, dass der Wille zählt. Wenn ein Musiker zum Herzberg kommt, der im Alter von 72 Lebensjahren mit der Erfahrung und Botschaften aus fast 60 Jahren Bühnenpräsenz glänzt, dann erwartet man, alle diese Botschaften noch einmal zu hören. Die Erste war „Military Madness“ und gleich kam eine erste Botschaft an Donald Trump, den der Musiker erkennbar nicht besonders schätzt…
Nach „Wasted On The Way“ folgte „Marrakesh Express“ und zu jedem Titel eine kurze Geschichte oder Einleitung. Tatsächlich in Marokko sei das Lied entstanden und die Reise diente ganz offensichtlich der Erweiterung des Bewusstseins. Mitte des Sets waren der Woodstock-Titel „4+20“ und das gesellschaftskritische „Chicago“ an der Reihe. Und wer als Teenie oder Twen in den 60ern und 70ern das Leben verstehen wollte, erinnerte sich sicher an seine Jugend mit „Love The One You‘re With“. Wenn Du nicht bei dem Menschen sein kannst, den Du liebst, liebe den, mit dem Du zusammen bist…
Träume und Liebe gegen Ängste
Musikalisch blieb Graham ganz einfach. Ohne Drums, nur Keyboard und zwei Gitarren reichten, vor allem weil die Sologitarre kein geringerer als Shane Fontayne spielte, der auch schon mit Bruce Springsteen oder Joe Cocker unterwegs war. Kurz vor der Zugabe dann endlich „Cathedral“, worauf der Autor dieser Zeilen besonders gewartet hat, war es doch in meinen DJ-Jahren am dienstäglichen Rockabend im Las Caronas in Fritzlar die Erkennungsmelodie zum Start der ersten Tanzrunde. Das war damals noch so, mit den „Hymnen“ in den Discos und ein kirchenkritischer Titel auf der Tanzfläche war durchaus Ok.
Als letzte Zugabe dann das legendäre und für eine heutige Zeit voller Feindschaft, Nationalismus, Protektionismus, Ab- und Ausgrenzung passende: „Teach Your Children Well“: Und Ihr, von zarten Jahren, könnt die Ängste, mit denen Eure Eltern aufgewachsen sind, nicht kennen. Bitte helft ihnen in Ihrer Jugend. Sie suchen die Wahrheit, bevor sie sterben können. Unterrichten Sie Ihre Kinder gut (…) füttert sie mit Euren Träumen (…) und Ihr seht, dass sie Euch lieben…
Das galt vor 60 Jahren und es gilt noch heute! (Rainer Sander)