Eklat: Drei Fraktionen verlassen Stadtverordnetenversammlung
BAUNATAL. Stühlerücken gab es gestern Abend (11. März) schon vor Beginn der Stadtverordnetenversammlung in Raum 119 des Baunataler Rathauses, weil mehr Besucher gekommen waren, als erwartet wurden und üblich sind. Dabei sind im 6. und ganz offensichtlich wichtigsten Tagesordnungspunkt, unerwartet eine Menge Stühle frei geworden. Aber der Reihe nach:
Haushalt 2019: Einnahmen erhöhen – Ausgaben senken
Der Haushalt einer Kommune ist ihr wichtigstes Steuerungsinstrument. Entsprechend ist das Einbringen des Haushaltes generell eine der wichtigsten Stunden im Jahr für Bürgermeister, Magistrate und Stadtverordnetenversammlungen. Es geht um den Plan, der alle Ausgaben festlegt, auch solche berücksichtigen muss, die nicht vorhersehbar sind und alle Einnahmen auflistet, von denen die meisten im Grunde unkalkulierbar sind. „Dieselfahrverbote, Feinstaub, Brexit, Pariser Abkommen, drohende Handelszölle in Amerika, konsequenter Umstieg der Chinesen auf die Elektromobilität“, diese Nachrichtensplitter listete Silke Engler, Baunatals neue Bürgermeisterin, bei ihrer ersten Haushaltsrede in dieser Funktion auf, um zu zeigen, wie schwer die Aufstellung eines Haushaltes gerade fällt.
Der Umbau der Produktion in die „elektromobile Zukuft“ bei VW, drohende weitere Strafen, alles das, macht den Hauptsteuerzahler derzeit zu einer unkalkulierbaren Größe. 82 Millionen Einnahmen sind im Haushalt eingeplant, 62 Millionen, also rund drei Viertel davon, sind Steuern und ähnliches. 17 Millionen Euro werden an Einkommensteuer veranschlagt, 30,5 Millionen Euro aus der Gewerbesteuer erwartet und an Grundsteuer-Einnahmen sollen 6,4 Millionen Euro fließen. Wie viel Gewerbesteuer es tatsächlich werden, ist ungewiss.
Baunatal ist nicht mehr reich (aber noch nicht arm)
Nach einem Zeitverzug von drei Jahren, so Silke Engler, bekommt die Stadt jetzt erstmals wieder 6 Millionen Euro Schlüsselzuweisungen vom Land. Baunatal gilt also nicht mehr als reich. Die Stadt ist aber auch nicht arm. Mit vergleichbarer Pro-Kopf-Verschuldung von 38 Euro werden sich in Deutschland nur wenige Kommunen finden. Und das nach 3 Jahren Dieselkrise. Fast 200 Mal so hoch ist der Durchschnittswert in Hessen. Die Folgen der Krise sind eine Finanzlücke von insgesamt 40 Millionen Euro – bis 2022 nach aktuellen Prognosen -. Mit 1,8 Millionen Euro fällt das Defizit für 2019 – nach ursprünglichen Prognosen von rund 14 Millionen Euro – schon überschaubarer aus.
29,5 Millionen Euro zahlt die Stadt an Umlagen (zum Beispiel Kreisumlage) und 28 Millionen an Personalkosten. 9,5 Millionen Aufwand für die Kindergärten, entsprechen rund 10 Prozent der Aufwendungen.
Was sich ändern soll, damit was bleibt…
Das geht nur, wenn nicht nur die Ausgaben gesenkt, sondern auch die Einnahmen erhöht werden. Das Leben in Baunatal wird etwas teuer werden, sollte der Haushalt – wie vorgelegt – verabschiedet werden. Dann stehen folgende Veränderungen an:
- Die Vereinsförderung wird um 10 Prozent gekürzt, an den Leistungen der Stadt für Vereine und Anlagen aber nicht gerüttelt.
- Die Modernisierung der Max-Riegel-Halle und der Kulturhalle wird weiterhin verzögert. Der neue Sportcampus von KSV und bdks gemeinsam, erhält trotzdem eine Anschubfinanzierung von 100.000 Euro.
- Die Grundsteuer A steigt von 340 auf 370 Prozent, die Grundsteuer B von 350 auf 400 Prozentpunkte. 10 Jahre lang wurden diese Hebesätze nicht aktualisiert.
- Die Gewerbesteuer erhöht sich auf 440 Prozent statt bisher 400. (Vergleich andere VW-Städte: Braunschweig 500, Wolfsburg 450, Emden 480).
- Hundesteuer und Spielapparatesteuer werden angepasst.
- Friedhofsgebühren steigen um 10 Prozent (Sie erreichen damit erst 80 Prozent Kostendeckung).
- Das Mittagessen in den Kindergärten wird geringer bezuschusst. Statt 40 Euro werden es jetzt 60 Euro im Monat, die Stadt trägt statt 120 Euro nur noch 100 Euro.
- Die – nicht gesetzlich geregelte – Nachmittagsbetreuung kostet zukünftig 1 Euro pro Stunde.
- Straßen werden nur noch dann grundhaft erneuert, wenn die Leitungen marode sind. Für 1,6 Millionen Euro wird „Unter den Linden“ bis zum Bahnhof Großenritte die Straße erneuert.
- Der Herbstpalast wird nicht mehr stattfinden, das Kulturprogramm soll auf Veranstaltungsagenturen verlagert und über das Jahr verteilt werden.
- Zu Senioren-Geburtstagsfeiern wird nur noch dreimal (statt viermal) eingeladen und der Tanztee entfällt.
- Die Sauna im AquaPark wird geschlossen, weil sie nur verlustreich betrieben werden könnte und ein privater Betreiber nicht gefunden wurde.
- Freie Stellen werden aktuell nicht besetzt.
- Fahrzeugbeschaffungen werden ebenfalls verschoben.
- Die Stadt kann wegen neuer Richtgrößen kein eigenes Rechnungsprüfungsamt mehr.
- Die Stadtwerke kommen 2021 zurück in den städtischen Haushalt.
Bildung, Vereine Ehrenamt bleiben wichtige Aufgaben in Baunatal, erklärte Silke Engler, es gibt keine neuen Steuern oder Gebühren, weder Pferdesteuer, noch Straßenbeitragsgebühr, 15.100 Mitglieder der Baunataler Sportvereine dürfen die städtischen Sportanlagen auch weiterhin kostenfrei nutzen. Zwei Millionen Euro werden trotzdem für die Sportstätten aufgewendet. End Mai sollen die Arbeiten am AquaPark mit der Reparatur des Daches beginnen. Es wird zu Einschränkungen kommen, wenn 70.000 Euro verbaut werden (23.000 Euro Bundeszuschuss). Die Gebühren für Wasser und Kanal bleiben genauso unangetastet wie die Fernwärme. Aktuelle Defizite werden über Rücklagen abgefangen.
Man könne, da ist sich Frau Engler sicher, weiterhin gestalten, weil die Stadt immer noch vergleichsweise gut dasteht. Für die Haushaltsrede bekam die Bürgermeisterin Applaus von der SPD-Fraktion. Der Haushaltsplan durchläuft nun die Beratung im Haupt- und Finanzausschuss. Im Mai soll er verabschiedet werden.
Hauptamtliche/r Stadtrat/Stadträtin – ja oder nein?
Mit der Wahl der Ersten Stadträtin zur Bürgermeisterin ist in Baunatal die hauptamtliche Stellvertreterstelle frei geworden. Die Aufgaben sind unter anderem der gesamte Bau-Bereich, die Stadtplanung und die Stadtwerke.
Auf der Tagesordnung stand die Beschlussfassung zur Einsetzung eines Wahlvorbereitungsausschusses, die Reiner Heine (SPD) mit der vollen Auslastung der Stelle und den positiven Erfahrungen begründete und der aus 10 Stadtverordneten bestehen soll.
Grüne: Entscheidung ein Jahr „schieben“
Mit Edmund Borschels (B90/Grüne) Änderungsantrag, die Besetzung der hauptamtlichen Stelle der Ersten Stadträtin / des Ersten Stadtrates aufgrund der schwierigen Haushaltslage 2019 nicht zu vollziehen, begann eine heftige Auseinandersetzung im Parlament. Die Kosten im 6-stelligen Bereich könne man einsparen, repräsentative Aufgaben durch die ehrenamtlichen Stadträte wahrnehmen lassen und damit zeigen, dass Sparwille vorhanden ist.
Für Reiner Heine (SPD) ergab sich folgende Situation: 2017 wurde Manfred Schaub wiedergewählt und Silke Engler 2018 als Erste Stadträtin bestätigt. Bei normalem Verlauf hätte Baunatal noch bis 2024 zwei hauptamtliche Stellen im Magistrat gehabt. Silke Engler müsse seit Mai 2018 für zwei arbeiten. Erst hat sie die Tätigkeit der Bürgermeisterin mit übernommen und nun führt sie umgekehrt die Aufgabe der alten Stelle weiter. Seit fast 19 Jahren sieht die Hauptsatzung zwei hauptamtliche Magistratsmitglieder vor, Baunatal sei nicht vergleichbar mit Städten gleicher Größenordnung. Präsentieren und Repräsentieren müsse von hauptamtlichen geleistet werden. Das sei auch für Gäste eine Frage der Wertschätzung.
CDU: Grotesk – keine Parteibonzen!
Fraktionsvorsitzender Sebastian Stüssel (CDU) konterte bereits mit aller Schärfe. Die CDU sei klar für die Abschaffung der Stelle, die Position der SPD dazu geradezu grotesk. Die Stadt müsse sparen und das sollte sie bei sich selbst tun. Für Veranstaltungen reichen Ehrenamtliche. Es ginge schon eine Weile so und er habe nicht gehört, dass etwas liegen geblieben sei. Frau Engler habe gerade in der Haushaltsrede gesagt, alles werde reorganisiert, die Stadtwerke kämen zurück in den Haushalt, Baumaßnahmen seien sowieso gerade alle gestrichen und die großen Brocken damit aus dem Job raus. Die SPD spare am falschen Ende: Saisonkräfte werden abgebaut, der Stadtrat bleibt. Die CDU werde keinen Job für Parteibonzen unterstützen, währen der „Kleine Mann“ mit Gebühren- und Steuererhöhungen die Zeche zahlen soll.
FDP fühlt sich düpiert und hintergangen
Dr. Rainer Oswald (FDP) fühlte sich düpiert durch den Tagesordnungspunkt. Es wären in interfraktionellen Gesprächen andere Zusagen gegeben worden, ohne den Inhalt zu nennen. Ein Rechnungsprüfungsamt solle dafür besser erhalten bleiben und andere Stellen attraktiver werden.
CDU, FDP, Grüne: Wir sind dann mal weg…
Edmund Borschel (Grüne) sah keine „Sternstunde für dieses Haus“ und leitete dann den Exodus ein. In Krisenzeiten sind kreative Lösungen gefragt. Silke Engler habe in der Haushaltsrede die Nichtbesetzung frei gewordener Stellen verkündet und der Stadtrat sei auch eine freigewordene Stelle. Auf der Straße höre man Ablehnung und so sei es ein dreister Vorschlag. Christian Strube (SPD) begründete, Baunatal sei die größte Stadt im Landkreis und die einzige mit einem VW-Werk, Baumaßnahmen, wie der neue Autobahnanschluss beschäftigen die Stadt auch und es wurden bereits ein fehlender Entwicklungsplan bemängelt. Thomas Gerke (CDU) fragte danach, was die guten Fachbereichsleiter eigentlich machen, ehe der scheidende Patrick Weilbach (CDU) Herrn Strube dann persönlich anging: „Interessante Bewerbungsrede!“ Wer sowieso geht kann auch den Respekt verlieren und den Schmerz der letzten Wahlniederlage auf den Punkt bringen? „Ich habe kein Mitleid mit Ihnen, Frau Engler“, so Weilbach, „Sie haben die letzten Jahre verschlafen!“
Es folgte eine persönliche Erklärung von Herrn Strube, der sich über eine persönliche Kampagne beklagte, bei der seinen Mitarbeitern schon gesagt worden sei, dass sie einen neuen Chef bekommen. Er werde mich allerdings nicht bewerben. Danach forderte Edmund Borschel nach § 25 der Geschäftsordnung namentliche Abstimmung. Nachdem der Änderungsantrag der Grünen mit 24 : 16 Stimmen abgelehnt wurde, verließen Grüne, FDP und CDU gemeinsam geschlossen den Saal. Der Antrag zur Einsetzung des Wahlvorbereitungsausschusses wurde danach mit 24 : 0 Stimmen einstimmig angenommen.
Es wird geplant und gebaut – bezahlbar soll es bleiben!
Vor dem Exodus beschäftigten sich die Parlamentarier noch mit Bebauungsplänen. Am Einkaufszentrum Altenbauna wurde einstimmig die Aufstellung beschlossen. Die GWH will hier vier Wohngebäude mit Tiefgarage bauen. Herr Riemenschneider (SPD) wünscht sich, dass die Bäume vor dem Parkhaus erhalten bleiben, Herr Rost (Grüne) legt Wert auf die Anzahl der barrierefreien Wohnungen. Bei der Dachbegrünung solle die Stärke erhöht werden, PV-Anlagen eingeplant und Lademöglichkeiten für E-Bikes im Keller geschaffen werden.
Mit vier Gegenstimmen der Grünen wurde der Bebauungsplan 50 B für die Schauenburger Straße angenommen. Die Fraktion von Bündnis 90/Grüne bemängelte, dass bei 13 barrierefreien Wohnungen auf zwei Etagen mit Aufzug für Senioren leider keine Unterschreitung der Energiesparverordnung (ENEV) um 15 Prozent vorgesehen sei. Sebastian Stüssel (CDU) entgegnete der Kritik: Es müsse alles auch bezahlbar bleiben, die ENEV sei an sich schon verschärft worden.
Lärmschutz in Guntershausen – Biss fehlt (Zähne aber auch)
Einstimmig passierte ein SPD-Antrag zum Lärmschutz in Guntershausen die Stadtverordnetenversammlung. Dr. Klaus Peter Lorenz (SPD): Die Belegung der Bahnstrecke habe deutlich zugenommen, sie sei auch Umleitungsstrecke, die Bahn habe die Geschwindigkeiten erhöht und den Bremspunkt für geräuschvolle Zwangsbremsungen in die Ortslage verlagert. Nördlich von Kassel gäbe es Schallschutz, nicht aber südlich in Baunatal. Die Erbneuerung der Schnellfahrstrecke steht an und so drängt die Zeit, mit der Bahn über Lärmschutz und einen verbindlichen Zeitplan zu fordern. Sebastian Stüssel (CDU) und Edmund Borschel (B90/Grüne) bemängelten in den Formulierungen fehlenden Biss, räumten aber ein, auch keinen besseren Hebel gegenüber der Bahn zu erkennen. Ohne Zähne ist Zubeißen allerdings schwer. (rs)
Kommentar:
Es ist ein ritualisierter Vorgang. Wann immer in einem Kreis oder in einer Stadt eine hauptamtliche Stellvertreterstelle zu besetzen ist, gibt es gute Gründe, sie gerade jetzt abzuschaffen und auch einige Gründe, um alles so zu lassen, zumal die Arbeit sowieso erledigt werden muss. Das ist auch in Baunatal so. Einiges spricht dafür, anderes dagegen. Man muss das sogar hinterfragen! Der Diskurs gehört zur Demokratie.
Wir leben gerade in Zeiten, in denen Notstände an Grenzen nicht zur Beseitigung von Notlagen ausgerufen werden, sondern um den eigenen politischen Willen gegen die demokratisch gewählten Gremien durchzusetzen, in denen Koalitionen an den Rand des Scheiterns geführt werden, um Phantom-Diskussionen zu führen, in denen alle sowieso immer irgendwie gereizt sind und ständig Keulen schwingen. Dass dann der Auszug aus einem demokratisch gewählten Parlament, als härtestes Mittel der Auseinandersetzung überhaupt, zum Alltagsgeschäft gehören kann, überrascht also kaum.
Die Frage ist, welches Mittel man dann wählen möchte, wenn sich eine echte Notlage abzeichnet. Ob die Situation, in der viele Menschen zwar etwas mehr in die Tasche greifen müssen, aber immer noch weit weniger als in anderen Kommunen, das dramatischste und spektakulärste Instrument schon rechtfertigt? Die Antwort gibt es wohl erst in zwei Jahren zur nächsten Kommunalwahl. (Rainer Sander)