Wahlkampfdiskussion in Baunatal unter der Bürde einer Nachfolge
GUNTERSHAUSEN. Alle sechs Jahre werden in Hessen Bürgermeister gewählt. Direkt und nach dem Willen der Bevölkerung. Jede Frau oder jeder Mann, die oder der in Baunatal entweder 90 Unterstützer nachweisen kann oder einer Partei angehört, die bereits in den Hessischen Landtag oder den Bundestag gewählt wurde, hat das Recht, für das Amt der Verwaltungschefin oder des Verwaltungschefs kandidieren.
Das tun in der Volkswagenstadt eine Frau und drei Männer, die bereits nach 21 Monaten antreten, weil Amtsinhaber Manfred Schaub völlig unerwartet vor viereinhalb Monaten – am Pfingstsonntag 2018 – verstorben ist und die hessische Gemeindeordnung eine knappe Frist vorschreibt.
Außer im Parlament treffen die vier Kandidaten, Juri Stölzner, Silke Engler, Sebastian Stüssel und Dr. Rainer Oswald – in dieser Reihenfolge saßen sie am Freitagabend in Guntershausen im Podium – nur zwei Mal im Wahlkampf aufeinander. Rund 25 Besucher waren ins Dorfgemeinschaftshaus in Baunatals kleinstem Stadtteil gekommen. Der parteilose Stadtverordnete Henry Richter, Mitglied der Grünen-Fraktion und früheres SPD-Mitglied, durfte die vier Kandidaten befragen und die Runde moderieren. Das Thema: Entwicklung der Ortskerne.
Das Level entscheidet
In Baunatal haben die Bürger die Wahl zwischen vier Kandidaten, vier Programmentwürfen und vier verschiedenen Charakteren. Zwei unübersehbare Schwierigkeiten begleiten den Wahlkampf. Zum einen kommen unter einem Trauerflor Angriffsszenarien sehr schlecht an und zum anderen hat Baunatal so vieles erreicht, dass es schwerfällt, echte Kritik zu äußern. Wo andernorts über Anlieger- und Straßenausbaugebühren, hohe Wasserpreise, marode Schulen, fehlende Bus- und Bahnverbindungen, lückenhafte Gemeinschafts- und Sportanlagen, gänzlich fehlende DSL-Verbindungen, marode Innenstädte mit Versorgungslücken, zu wenig Kindergärten und Wohnungsmangel diskutiert wird, geht es in Baunatal vorrangig um das „wie“, statt um das „ob“.
Das einzig echte Problem scheint, nach den im Diesel-Skandal gesunkenen Gewerbesteuereinnahmen und der diskutierten Werksschließung etwa 10 Jahren, die Abhängigkeit von Volkswagen zu sein. Wenn die Hälfte aller Arbeitsplätze und – über alle Steuerarten gerechnet – ein noch weit höherer Anteil an Steuereinnahmen vom „Werk“ abhängt, bleibt das stets eine sehr theoretische Diskussion. Man kann aber immer wieder darüber sprechen.
Die Gemeinsamkeiten
Das nicht überall alles gleich ist in der VW-Stadt, verleitet sicher dazu, einmal über die „Entwicklung der Ortskerne“ zu sprechen: Alle vier sind sich offenkundig darüber einig, dass es sich gut leben lässt in Baunatal. Es klingt vieles nach einem gemeinsamen „weiter so“! Alle vier wissen, dass es einen funktionierenden Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) gibt. Alle wollen, dass alle in Baunatal schnelles Internet bekommen. Bei der Frage nach den Problemen werden dann die feinen Unterschiede deutlich.
Wer sieht welche Probleme?
Juri Stölzner (Grüne) erkennt eine falsche Siedlungspolitik. Statt immer mehr Baugebiete, möchte er mehr bezahlbaren Wohnraum. Den Bauboom würde er gerne begrenzen. Lärm sei in ganz Baunatal, vor allem in Guntershausen ein Thema.
Silke Engler (SPD) formuliert keine Probleme, sondern sieht Herausforderungen, denen die Stadtpolitik begegnen muss. Die liegen im digitalen und im demografischen Wandel, in der Einbindung der Bürger und auch im technischen Wandel, wie beispielsweise der Elektromobilität.
Sebastian Stüssel (CDU) sieht einen Sanierungsberg auf die Stadt zukommen, in Schwimmbad, Sportbad, Stadthalle, Max-Riegel-Halle. Die Stadtwerke müssen ausgebaut werden. Kreative Lösungen und Standing seien jetzt gefragt. Das Stadtmarketing sei nur ein Innenstadtmarketing und es fehle an einem Konzept zur Ansiedlung neuer Bürger in den Stadtteilen. Die Ortskerne seien keine Atomkerne und die Innenstadt strahle nicht.
Dr. Rainer Oswald (FDP) vermisst ein Gymnasium mit Oberstufe. Das sei dringend nötig und angemessen. Gewerbetreibenden müssen mehr Grundstücke angeboten werden, findet er. Baunatal dürfe nicht länger abhängig sein von VW und er hat Angst, dass die Sportförderung nachlassen könnte. Der Zustand des Straßennetzes sei nicht gut, es „zerfällt! in manchen Ecken! Dr. Oswald findet den ÖPNV nicht attraktiv und er stellt fest, dass es nicht mehr überall Ärzte gibt. Er möchte im Alter nicht aus Baunatal wegziehen müssen, weil alles zu mühsam ist.
Wer will was?
Juri Stölzner möchte in den Kindergärten eine bessere pädagogische Ausbildung und einen besseren Ausbau de U3-Betreuung. Er will ein größeres Radwegenetz und Mitfahrerbänke aufstellen. Wer darauf sitzt, gibt zu erkennen, dass er gerne mitgenommen werden möchte. Ein Kombi-Bus, der nicht nur Menschen, sondern auch Waren transportiert wäre wünschenswert. Er möchte mit einem freien W-LAN eine „digitale Dorflinde“ kreieren und Treffpunkte für die Menschen in den Dörfern schaffen. Er will am liebsten Bestandsgebäude aufstocken und Lücken schließen, die Betonwüsten begrünen, versiegeltes entsiegeln und mehr Arten ansiedeln. Wünschenswert wären Bausteine mit vorbereiteten Nistplätzen für Vögel und Fledermäuse.
Silke Engler erkennt die Zeichen der Zeit und möchte gerne mehr Geld ausgeben für die Demokratiebildung. Sie sieht im Digitalen Wandel Herausforderungen und dafür reiche nicht allein ein digitaler Verwaltungsservice. Die E-Mobilität sei das Ziel von Volkswagen und damit vor allem für Baunatal der Antrieb der Zukunft. Die Vereinsförderung und vor allem Die Bürgerbeteiligung bei allen Baumaßnahmen seien beispielgebend auch für die Zukunft. Die Ortskerne will sie zu Treffpunkten machen. DGHs, die Feuerwehren, die Vereine, die Kirchen und die Kindergärten sind schon solche. Sie erkennt, dass die Eisenbahner in Guntershausen etwas anderes brauchen, als die Kuckucke in Altenritte. Freies W-LAN wird bereits in der Innenstadt ausgebaut und es soll in die Ortsteile. Aber alle sieben brauchen aber eine Eigenentwicklung. Eine starke Innenstadt sei letztlich auch zukünftig die Basis.
Sebastian Stüssel möchte, dass alles schneller geht. „Baunatal bohrt immer dicke Bretter und das dauert, das will ich deutlich sagen, zu lange!“ Wenn man für Radwege Grundstücke braucht, dann müsse man eben mehr anbieten: „Wenn es Baunatal nicht schafft, wie sollen das andere Kommunen schaffen?“ fragt er. Er möchte die Altbausanierung fördern, Märkte und Veranstaltungen in die Stadtteile bringen. Er will die Nahversorgung verbessern, also mehr Produkte in den Stadtteilen. Darüber entstünden dann auch wieder Treffpunkte. EU-Mittel sollten dafür nach Baunatal geholt werden. Baunatal habe ein Gesundheitsprogramm, aber es brauche jetzt ein Förderprogramm für die Ansiedlung von Landärzten. Eine Arztpraxis, so Stüssel, der beruflich viele Ärzte vertrete, kostet 500.000 Euro, für die es heute schwer Darlehen gäbe. Da müsse zukünftig die Stadt helfen. Baunatal brauche außerdem ein Konzept zur dezentralen Energieversorgung. Blockheizkraftwerke gehörten in die Wohngebiete.
Dr. Rainer Oswald möchte in vielem Guten mehr Feinjustierung, mehr für die Straßen ausgeben, mehr Handwerksansiedlungen in den Ortsteilen und eine bessere Verteilung der Ärzte erreichen.
Große Diskussion
In der Diskussion mit den Bürgen geht es schnell um konkretes. Was ist mit einem verfallenden Haus in der Kirchgasse? Geht da ein Biergarten? Was ist mit den Radwegen, wenn sie Müll in den Ort bringen? Warum in Altenritte mit den Bürgern erarbeitete Pläne nicht umgesetzt werden? Engler und Stüssel können aufklären: Erst sollte der Hochwasserschutz erledigt sein, dann kommen der Wasserspielplatz und ein neuer Treffpunkt.
Vor allem kreiste die Diskussion mit den 25 Bürgern kreiste lange um den ÖPNV. Dr. Lorenz zählt in Guntershausen 28 Busverbindungen und mehr als doppelt so viele Zugverbindungen am „Hauptbahnhof“ von Baunatal. Ralf Sinning sieht stündlich leere Busse. Die Verbindung nach Wilhelmshöhe zum ICE sei aber aus vielen Stadtteilen schlecht. Dafür ist eine Direktverbindung im Gespräch. Ob die kommt und dafür etwas anderes wegfällt, wollen Zuhörer wissen? Silke Engler erklärt, dass es zunächst eine Machbarkeitsstudie gibt, dann wird darüber zu reden sein, was Baunatal dafür bezahlen muss und letztendlich werden die Gremien dann darüber zu befinden haben. Sebastian Stüssel möchte auf jeden Fall beides: Neue und die alten Verbindungen.
Aktuelle Fragen
Immer wieder dreht es sich zum Schluss um aktuelle Maßnahmen und ein fast wird es zur Fragestunde für die Vertreterin des Bürgermeisters, aus der deutlich wird, dass sie in Baunatal zuhause ist. Sie kennt den Hof von Bernhard Schmidt, weiß wo auf Artenschutz geachtet werden muss und was die Eigenarten der Ortsteile sind. Ob das Wasser reicht? Ja, 40 Prozent kommen aus Baunatal, 60 Prozent aus Fritzlar-Homberg und auch diesen Sommer war es nicht knapp. Lediglich nach zwei Bränden sollten die Hochbehälter wieder gefüllt werden, daher die zwischenzeitliche Bitte zum Wassersparen.
Wie schwer es zukünftig sein wird, den Menschen klar zu machen, dass sie einen von hier wählen sollen, wenn auch die Hälfte der Wahlberechtigten gar nicht von hier sind, wird indirekt deutlich. Baunatal war immer eine Zuwanderungsstadt. Und alle vier Kandidaten wollen daran nichts ändern. Baunatal soll wachsen.
Und noch etwas wird klar: Ein zukünftiger Bürgermeister in Baunatal wird sich auch um Schafskot auf dem Radweg und andere bürgernahe Probleme kümmern müssen. (rs)