
Engagierter Vortrag: Prof. Wolfgang Henseler © Foto: Rainer Sander
1. Baunataler Zukunftsdialog – Sorge über politische Planlosigkeit
BAUNATAL | SCHAUENBURG. Reden wir über Krisen oder über Chancen? Im chinesischen übrigens das gleiche Symbol. Suchen wir nach Konzepten und Geschenken oder braucht die Wirtschaft einen guten Rahmen und verlässliche Partner aus allen politischen Ebenen? Wir sieht die Zukunft aus in einer Zeit rasender Verwerfungen, KI und Disruption. Vor allem aber, was kann jeder Unternehmer tun?
Rund 180 Gästen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gefiel das Thema „Gemeinsam die Zukunft gestalten“. Deshalb sind sie gestern Abend der Einladung der beiden Gewerbevereine „Wirtschaftsgemeinschaft Baunatal“ und „Gewerbepartner Schauenburg“ zum „1. Baunataler Zukunftsdialog“ in die Baunataler Stadthalle gefolgt. Eine der Grundsatzfragen aktuell und des Abends: Wie können wir als Region Zukunft aktiv gestalten – statt ihr nur hinterherzulaufen?
Wirtschaft denkt in Dekaden, Politik in Wahlperioden …
Den Auftakt machte Peter Hammerschmidt (Wirtschaftsgemeinschaft Baunatal), der gemeinsam mit Stefan Weber (Gewerbepartner Schauenburg) für beide die Veranstaltung eröffnete. Die jüngste IHK-Umfrage, so Hammerschmidt zeige, dass viele Unternehmen keine tragfähigen Zukunftskonzepte haben.
Die Krise bei VW scheint wie ein Brennglas auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Schwächen zu wirken: „Uns fehlt es nicht an Herausforderungen, sondern an Strategien“, und weiter: „Politiker haben einen anderen Rhythmus: Während Unternehmen in Dekaden denken, orientiert sich kommunalpolitisches Handeln an Wahlperioden.“ Das müsse man synchronisieren: „Wir brauchen Dialog! Nicht irgendwann, sondern jetzt.“
Wirtschaft fordert Modelle, Politik entwirft Prozesse
In der Diskussion mit den Bürgermeistern wurden Kontraste spürbar: Während die Wirtschaft klare Konzepte und aktionsfähige Modelle einfordert, setzt die Politik auf Strategieprozesse, Fördertöpfe und geteilte Verantwortung.
- Henry Richter (Bürgermeister Baunatal) betonte, dass schnelle Lösungen oft nicht nachhaltig seien. Stattdessen brauche es ein gemeinsam erarbeitetes Strategiepapier. „Politik, Wirtschaft, Kirchen – alle müssen gemeinsam handeln. Wenn Verantwortung geteilt wird, wird man resilient.“
- Michael Plätzer (Bürgermeister Schauenburg) sieht die Zukunft in interkommunaler Zusammenarbeit. Erfolgreiche gemeinsame Projekte wie der Hochwasserschutz zeigten das Potenzial. „Fördermittel lassen sich gemeinsam besser nutzen, Kirchturmdenken hat ausgedient“, so Plätzer. „Manchmal will man die Wahrheit nur nicht hören.“
Während die Bürgermeister auf gemeinsame Prozesse setzen, drängt die Wirtschaft auf Tempo und Handlungsfähigkeit. Hammerschmidt formulierte es deutlich: „Wir brauchen nicht nur Förderrichtlinien, sondern betriebswirtschaftlich tragfähige Modelle – jetzt.“
Keynote von Prof. Henseler: Transformation verstehen, gestalten, umsetzen
Die zentrale Impulsrede des Abends hielt Prof. Wolfgang Henseler (Universität Pforzheim), Experte für digitale Transformation. Er hält wenig davon, mit immer den gleichen Mitteln, immer wieder andere Ergebnisse zu erwarten. Schon gar nicht im Angesicht disruptiver Veränderungen. Digitalisierung sei kein neues Phänomen, aber ihre Auswirkungen würden jetzt massiv spürbar – vom Kundenservice über Produktion bis zur Stadtplanung. In 5 Jahren sei es soweit, dass KI-Agenten Prozesse steuern. Wenig Zeit für eine Transformation?
In seinem Vortrag, bei dem man am liebsten jedes Wort mitschreiben wollte, beschrieb Henseler die fünf Entwicklungsstufen von Denken 1.0 (analog) bis 5.0 (intelligent-singulär). Die Zukunft gehöre nicht jenen, die alles verstehen – sondern jenen, die gestalten. Er zeigte anhand konkreter Beispiele wie Amazon DRS zeigen, wie KI Kaufentscheidungen vorwegnimmt, Produkte hyperpersonalisiert und sogar Design automatisiert wird. Abos kommen automatisch.
Wenn KI Selbständig handelt
Chatbots rufen an, wenn Algorithmen wissen, dass ein potenzieller Kunde zum Kauf bereit ist. Was Kunden wirklich erwarten? „Don’t make me care – make me happy!“ Kundenzentrierung sei nicht länger eine Option, sondern eine Überlebensstrategie – auch für Städte.
Henseler betonte: „KI ist ein Werkzeug, kein Wesen. Wir müssen die Rahmenbedingungen gestalten – sonst tut es jemand anderes.“
Podium: Persönlich, konkret, lösungsorientiert
Im Podiumsgespräch, moderiert – wie die gesamte Veranstaltung – von Prof. Dr. Frank Lehmann (Pro Nordhessen / ehemaliger Leiter des Daimler Achsenwerkes Kassel), standen praktische Beispiele, persönliche Transformation und regionale Verantwortung im Fokus:
- Diana Plettenberg erzählte, wie sie nach der Betriebsübergabe ihres Elektromotoren-Firme ein neues Berufsleben als Coachin begann: „Ich liebe, was ich tue – und tue, was ich liebe.“
- Alexander Krick (VW) schilderte die Herausforderung, in Baunatal einen der besten Elektroantriebe der Welt zu produzieren – bei sechsfachen Kosten im Vergleich zu China. „KI ersetzt niemanden, sie erweitert unsere Lösungskompetenz.“
- Prof. Uwe Altrock (Uni Kassel) forderte eine Weiterentwicklung der Stadtstrukturen und Innenstädte. Baunatal dürfe keine Bürostadt werden – es gehe um Lebensqualität, soziale Infrastruktur und Transformation von Dorfkernen.
- Jan-Bernd Röllmann (Stadtmanager von Marburg) mahnte zu mehr Selbstbewusstsein im Stadtmarketing: „Wir reden zu oft über Defizite – statt über das, was uns ausmacht.“
- Clarissa Laszig (Autohaus Glinicke) zeigte, wie KI im Kundenkontakt eingesetzt wird: Voicebot, 24/7- Service und -Abholung, lernende Systeme.
- Kai Georg Bachmann (Regionalmanager Nordhessen) forderte „Mut zur Veränderung“ und sah für Nordhessen einen Wettbewerbsvorteil: „Hier kann man noch Eigentum erwerben. Gerade durch die A 49 entstehe für die Region um Schwalmstadt enormes Potenzial – wir müssen den Menschen zeigen: Hier lohnt es sich zu leben.“
Publikumsdiskussion: KI, Schule, Bürokratie und Unternehmertum
Die Fragerunde mit den Gästen offenbarte viele tiefgreifende Themen, aber auch Sorgen:
- Daniel Jung (Erster Stadtrat Baunatal) fragte: „Merken wir eigentlich noch, wenn uns KI steuert?“ Henseler: „Nur wenn wir Gestaltungsmacht behalten, wird KI ein Werkzeug bleiben.“
- Moritz Heß (Gebäude-Energieberater): „Wie verhindern wir, dass Konzerne unsere Datenhoheit übernehmen?“ Henseler: „Durch neue Konzepte und klare politische Regeln.“
- Frage aus dem Publikum: „Wie kann KI beim Bürokratieabbau helfen?“ – Henseler verwies auf Estland und Dänemark. Röllmann ergänzte: „Bürokratie entsteht nicht durch Bürokraten – sondern durch Angst vor Fehlern.“
- Peter Skiba (Unternehmer): „Was kann Baunatal konkret besser machen?“ Röllmann: „Dialog mit Eigentümern suchen – eine vitale Innenstadt ist der beste Wirtschaftsförderer.“
- Wilfried Dülfer (Lehrer) fragte, wie das Thema KI in die Schulen kommt. Krick und Henseler betonten: Frühzeitige Begeisterung für Technik und „Future Skills“ seien essenziell.
- Alexander Miller (Maschinenbaustudent auf dem Weg zum Startup): „Wie begleiten wir junge Gründer?“ Plettenberg: „Es geht nicht nur um Geld – auch Handwerk hat Zukunft.“ Bachmann ergänzte: „Gründergeist gehört in die Schulen.“
Schlussworte: Klartext, Mut und Eigenverantwortung
In den Abschlussstatements wurde deutlich: Die Zeit des Abwartens ist vorbei.
- Plettenberg: „Hört auf zu jammern – übernehmt Verantwortung!“
- Krick: „Einfach machen!“
- Altrock: „Kundenorientierung und Kooperation – das ist unsere Stärke.“
- Röllmann: „Mut entdecken!“
- Laszig: „Veränderung ist eine Chance.“
- Bachmann: „Mut zur Anstrengung – und kleiner denken im Kirchturm.“
Ein eindrucksvoller Kurzfilm über die „Power Module“ bei VW rundete die Veranstaltung ab – ein leuchtendes Beispiel für Transformation aus Baunatal. Hammerschmidt und Stadtmanager Dirk Wuschko dankten allen Beteiligten mit einer „Wundertüte“. Der Zukunftsdialog hat Spuren hinterlassen – und Erwartungen geweckt. Fortsetzung erwünscht und in Aussicht gestellt. Es war ja erst der 1. Zukunftsdialog. (rs)