
Wohnraumentwicklung in Baunatal © Foto: Rainer Sander
Prof. Dr. Uwe Altrock zur Wohnraumentwicklung in Baunatal
BAUNATAL. „Obwohl Prognosen unsicher sind, muss man sich stadtplanerisch aufstellen“, so dass vorweggenommene Resümee von Prof. Dr.-Ing. Uwe Altrock, Dekan des Fachbereichs Architektur-Stadtplanung-Landschaftsplanung an der Universität Kassel, zu Beginn seines Vortrages am Donnerstag zum Thema Wohnraumentwicklungskonzept in Baunatal.
Den Auftrag, die Stadt bei der Beantwortung von Fragen nach der Notwendigkeit einer Siedlungsentwicklung und der Schlussfolgerungen für Wohnungsbau beziehungsweise Stadtentwicklung zu unterstützen, hat Prof. Dr. Altrock bereits bekommen, als kontroverse Diskussionen um die Potenzialfläche Großenritte-Nord in Fahrt kamen. Auftraggeber vor rund zweieinhalb Jahren waren Bürgermeisterin Manuela Strube und Erster Stadtrat Daniel Jung.
Analyse, Plausibilität, Folgerungen – keine Prognosen
Jetzt ist Henry Richter Bürgermeister und möchte bürgernah planen. Prof. Dr. Altrock und Daniel Jung sind auch noch da. Mehr als zwei Jahre lang ist viel interpretiert worden über die ersten Aussagen von Herrn Altrock und sowohl die Befürworter als auch die Gegner einer Außenentwicklung größeren Ausmaßes haben sich auf den Professor berufen.
Es waren zunächst, so der Wissenschaftler Altrock, die analytischen Daten. Mit Spannung wurden am Donnerstagabend die Folgerungen erwartet. Das Wort „Schlussfolgerungen“ fiel nicht, weil niemand die Zukunft vorhersehen kann. Professor Altrock legte auch Wert auf die Feststellung, nie eine Prognose abgegeben zu haben und dies auch nicht tun zu wollen. „Wir haben vorhandene Prognosen ausgewertet und auf Plausibilität überprüft“
Eine durchschnittliche Stadt
Auch wenn sich die Baunataler zumeist anders sehen, für Professor Dr. Altrock ist Baunatal eine durchschnittliche Stadt. Eben viel ländliche Prägung, wenig großstädtische Struktur. Die Mietsteigerungen von 16 % (2019 – 2023) entsprechen der Inflationsrate, also scheint kein übergroßer Bedarf zu bestehen. Etwas anders verhält sich das bei den Immobilienpreisen. Die steigen mit einem Plus von 27 Prozent deutlich schneller als Mieten, sind spitze im Landkreis-Durchschnitt, aber immer noch weniger nach oben geschnellt, als dies in den „richtigen“ Großstädten aktuell der Fall ist.
Die meisten Wohnungen befinden sich in Häusern mit 3 und mehr Wohnungen. Der starken Dominanz von Einfamilienhäusern wurden immer mehr Mehrfamilienhäuser und Geschosswohnungsbau entgegengestellt. Es sei kein „Überschwappen“ aus Kassel zu beobachten. Vor allem zumeist mittelgroße Wohnungen gebaut.
Bisher alle Vorhersagen widerlegt
In der Vergangenheit wurde bei den Vorhersagen zur Bevölkerungsentwicklung stets ein Schrumpfen prognostiziert. Tatsächlich kam es immer zu einer Zunahme. In den letzten Jahren vor allem durch Flüchtlinge. Das Auf und Ab der Baunataler Arbeitsplätze hat nie die großen Auswirkungen gehabt.
Was ist nun mit dem Deutungskonflikt. Während viele sicher sind, dass Baunatal nicht wächst, gehen andere davon aus, dass mehr Wohnraum nötig wird. Ist das ein Widerspruch?
Der Kompromiss im Kompromiss …
Professor Altrock begegnet der Frage, „wie in den nächsten 20 Jahren planen“, mit einem Rückblick auf die letzten 20 Jahre und einem Ausblick in 2 Varianten. In den 20 Jahren vor seiner Auftragserteilung gab es den Tsunami, kam Angela Merkel und ging Angela Merkel, gab es eine Finanzkrise. Obama erschien und verschwand, Trump kam und ging und kam wieder, Fukushima ist passiert, der Arabische Frühling hielt kurz, wurde die Krim annektiert, die Ukraine überfallen und eine Pandemie bewältigt. Wer wagt den Blick in die Glaskugel?
Entweder es gibt moderates Wachstum oder moderates Schrumpfen. Am plausibelsten, stellt der Referent fest, sei ein Stabilitätsszenario. Also das dazwischen. „Da brauchen wir keine Wohnungen“, fragt er provokativ. Tatsächlich werden die benötigten Flächen um 4 Quadratmeter pro Kopf steigen, wenn die Entwicklung so bleibt wie bisher.
So oder so, der Wohnraum-Bedarf steigt
Selbst in der konservativen Variante bei moderater Schrumpfung steigt der Wohnraumbedarf um 59.200 Quadratmeter, bei Stabilität um 111.200 Quadratmeter und bei moderatem Mehrbedarf sogar um 163.200 Quadratmeter.
Es ist also nicht wahrscheinlich, dass Baunatal so stark schrumpft, dass es mit der aktuellen Wohnfläche zurande kommt. Ist Innenentwicklung die Lösung? Baunatal hat tatsächlich bereits viel Innenentwicklung betrieben und dabei Flächen im städtischen Eigentum bebaut. Davon ist nicht mehr viel übrig. Das Institut der Universität Kassel hat zunächst weitere Baulücken ermittelt. Auch diese Potenzialflächen haben „Bindungen“, also entweder eine Nutzung oder Eigentümer, die mitspielen müssen. Vorrang haben immer Eigentum und eine Stabilität der Nutzung. Als interessante Flächen für eine Bebauung nannte er Bereich der EAM-Verwaltung die Flächen für Lager, die nicht Innenbereich vorgehalten werden, aber auch die große Fläche des Parkplatzes zwischen Marktstraße und Kirchbaunaer Straße. Stellplätze wegnehmen und für weitere Wohnungen gleichzeitig neue schaffen, ist allerdings schwierig.
Die Glaskugel zeigt, was man sehen will
Den Überlegungen zugrunde liegen die einerseits gesamtpolitischen, andererseits Baunatal formulierten Grundsätze wie „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“, also eine nachhaltige Flächenverbrauchsstrategie. In Deutschland gilt die Vorgabe pro Tag nur 30 Hektar zusätzliche Fläche zu „verbrauchen“ und zukünftig sogar gar keine Flächen mehr. Das ist die Hoffnung der Politik, erklärt Herr Altrock. Aktuell werden deutschlandweit etwa 55 Hektar tatsächlich täglich umgewandelt, mithin fast das Doppelte der Vorgabe. Und Professor Dr. Altrock erwähnt: auch bei Innenentwicklung werden Bäume verloren gehen.
Der Glaube geht verloren – ein Drittel Erschließung in 20 Jahren?
Zukünftige Potenziale ergeben sich zukünftig auch durch nicht mehr genutzte kirchliche Grundstücke. Der Glaube geht verloren … Discounter können aufgestockt werden. Autohäuser, die nicht mehr gebraucht werden, können bebaut und Parkplätze überbaut werde. Private Grundstücke lassen sich teilen und eingeschossige Gebäude aufstocken. Gewerbeflächen könnten mit Wohnhäusern bebaut werden und im Gewerbegebiet Großenritte ließe sich der Wohnbebauung zukünftig Vorrang einräumen. Auch die Leerstandsreduzierung gehört dazu. Leerstände müssen ermittelt werden. Tiny-Häuser, die oft keine Tiny-Preise haben, könnten minimal beitragen, wenn sie nicht als Zweithäuser genutzt werden.
Nimmt man alle Flächen zusammen, die als Potenzial infrage kommen und strengen sich alle moderat an, ist der Bedarf an Wohnraum im Innenbereich zu befriedigen. Allerdings: In 20 Jahren lassen sich erfahrungsgemäß nur 30 Prozent erschließen. Es will nicht jeder seine Flächen bebauen.
Mehr Arbeit, mehr Personal für mehr Wohnungen
Relativ einfach, so Altrock, könnten vielleicht 600 Wohnungen entwickelt werden. Wie groß die Auswirkungen auf den Stellenplan in der Verwaltung sein könnten, um Eigentümer zu bewegen, kann die Universität nicht hochrechnen. Eins ist sicher: Man muss die Menschen direkt persönlich ansprechen! Eine anonyme und allgemeine Ansprache funktioniert nicht! Da kommt viel Arbeit auf eine reduzierte Verwaltung zu. Berücksichtigung finden müssen auch die Weiterentwicklung von Einfamilienhausgebieten. Umbau, Ausbau oder seniorengerechte Alternativangebote.
Wie viel Druck ist zu spüren? Familien suchen händeringend. Ältere haben keinen Druck. Fragen nach sozialem Wohnungsbau und technischer Infrastruktur wurden bisher in den Untersuchungen nicht berücksichtigt.
Außenentwicklung mit Bedacht
Auch Gewerbeflächen gehören dazu, betont Professor Dr. Altrock. Die Frage, ob das im Volksmund so genannte Gebiet Großenritte-Süd nun Innenentwicklung oder Außenentwicklung ist, weicht er geschickt aus. Wie man es auch nennt, es werden landwirtschaftliche Flächen versiegelt.
Haben das andere Städte schon gemacht, will jemand wissen? Es gibt Erfahrungen vor allem mit Konversionsflächen, aber keine lange Liste positiver Beispiele aus anderen Kommunen. Die Beispiele sind eher Einzelfälle und keines scheint flächenmäßig eine ganze Stadt positiv verändert zu haben. Wie sieht es in den Ortsteilen aus? Das wird Thema eines Workshops sein!
Flächenkonflikt zwischen Wohnen und Gewerbe?
Mit Überlegungen zu Konversionsflächen, also zur Verwandlung von bisherigen Gewerbeflächen zur Wohnbebauung, ist die umgekehrte Entwicklung scheinbar ausgeklammert. Die Frage vom Stadtmanager und gleichzeitig Marketingbeauftragtem der Wirtschaftsgemeinschaft Baunatal, Dirk Wuschko, wie es mit Gewerbeflächen aussieht, wurde gar nicht beantwortet. Stadtmarketing und Wirtschaft sehen einen Flächenkonflikt zwischen Wohngebieten und Gewerbegebieten.
Wenn die EAM Material und Fahrzeuge nicht im Innenbereich lagern und abstellen soll, bleibt die Frage, wohin damit? Also in den Außenbereich? Bürgermeister Henry Richter hat gerade eine Stabsstelle zur Wirtschaftsförderung der Stadt eingerichtet. Es geht um Ansiedlung zusätzlicher Unternehmen, um außerhalb von Volkswagen Gewerbesteuern zu generieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Auch das geht nicht im Innenbereich. Dieser Bedarf scheint ausgeklammert.
Von wegen ganzheitlich …
Das Gewerbegebiet in Großenritte ist bewusst so angelegt, dass die Gewerbetreibenden unmittelbar bei ihren Unternehmen auch wohnen und zu Hause sind. Ein Modell, das viele Jahre lang als wegweisend galt. Nach den Vorstellungen von Professor Altrock sollte hier zunehmend eine Wohnbebauung stattfinden, also Gewerbe verdrängt werden? Gehen diese Unternehmen dann nach Schauenburg oder Vellmar? Und zahlen dann dort ihre Gewerbesteuer, die die Stadt Baunatal gerade so dringend benötigt? Es scheint so, als würde mit vielen beantworteten Fragen gleich neue Fragen entstehen. In den sechs Workshops wird es viel zu besprechen gehen!
Jetzt kommen die Workshops
Was also geht, was wollen welche Bürger und was geht vielleicht auch nicht … ? In sechs Workshops sollen jetzt Fragen beantwortet und Perspektiven erarbeitet werden:
- Wo sollen in den nächsten 20 Jahren in Baunatal wie viel und welche Wohnungen entstehen? Termine: 27. März (18:30 Uhr bis 20:30 Uhr) + 29. März (10:00 Uhr bis 15:00 Uhr)
- Möglichkeiten der Weiterentwicklung von Einfamilienhausgebieten – Termine: 24. April (18:30 Uhr bis 20:30 Uhr + 26. April (Uhr 10:00 bis 15:00 Uhr)
- Möglichkeiten der Weiterentwicklung von Ortskernen Einzelhandelsflächen – Termine: 23. Mai (18:30 Uhr bis 20:30 Uhr) + 24. Mai (10:00 Uhr bis 15:00 Uhr)
- Möglichkeiten der Weiterentwicklung von Konversionsflächen – Termine: 22. August (18:30 Uhr bis 20:30 Uhr) + 23. August (10:00 Uhr bis 15:00 Uhr)
- Möglichkeiten der Weiterentwicklung von Nachverdichtung im Geschosswohnungsbau – Termine: 24. Thema (18:30 Uhr bis 20:30 Uhr + 6. September (10:00 Uhr bis 15:00 Uhr)
- Wie sollen städtische Erweiterungsflächen bebaut werden, falls notwendig? Termine: 24. Oktober (18:30 Uhr bis 20:30 Uhr + 20. Oktober (10:00 Uhr bis 15:00 Uhr)
Die Anmeldung zu den Workshops ist bereits möglich auf der Internetseite der Stadt Baunatal. Bürgermeister Henry Richter hofft auf möglichst intensive Teilnahme. Danach ist die Stadt – wie ganz Hessen – für ein halbes Jahr mitten im Kommunalwahlkampf, womit ein Thema besetzt wäre. (rs)
