Betriebsversammlung bei VW Baunatal
BAUNATAL. In einer emotional aufgeladenen Betriebsversammlung im VW-Werk Kassel in Baunatal standen wichtige Zukunftsfragen für die Belegschaft im Mittelpunkt. Mit deutlichen Worten und entschlossenem Engagement präsentierten sowohl Arbeitnehmervertreter als auch die Unternehmensleitung ihre Sichtweisen auf die gegenwärtige Situation und anstehende Herausforderungen.
Spontane Aktion und klare Botschaften
8.000 Beschäftigte, so der Betriebsrat, waren in die Halle 2 gekommen. Bereits zu Beginn sorgte die spontane Aktion der IG Metall mit dem Banner „Unsere Zukunft gestalten“ für Aufsehen. Betriebsratsvorsitzender Carsten Büchling eröffnete seinen Beitrag mit einem Rückblick auf den gestrigen Warnstreik, bei dem das Werk nahezu stillstand. Seine Kritik war unmissverständlich: „Seit Monaten bekommen wir nur Schläge ins Gesicht. Es reicht! Wir sind die Volkswagen-Familie und lassen uns nicht spalten.“ Vor dem Hintergrund von Krieg in der Ukraine, Hitzerekorden, Überflutungen, Donald Trump und Elon Musk starte VW den historisch größten Angriff auf die Arbeitnehmer mit 10 % Einkommenskürzungen, Nullrunde 2024, Streichung tariflicher Zulagen, Tarif- plus Boni-Kürzungen und Jubiläumsgeldstreichungen. Er sprach von Vorstandsversagen, einer ganzen Kette an Managementfehlern: „Wir brauchen mehr Demokratie und Mitbestimmungsrechte!“
Die Ankündigungen sorgten für große Unruhe. Insbesondere die angekündigte Verlagerung der Getriebeproduktion nach China wurde als „asoziale Bedrohung“ bezeichnet. Büchling warnte: „Wenn das passiert, geht in Kassel das Licht aus!“ Positive Signale gab es dennoch: Projekte wie APP550 und die Fertigung von Komponenten für Elektrofahrzeuge sollen den Standort zukunftsfähig machen. Das Ziel ist klar: Erhalt wertvoller Industriearbeitsplätze und Ausbau der Fertigungstiefe sowie der Kompetenzen. Ein Appell an die Belegschaft schloss seinen Beitrag: „Wir müssen zusammenhalten – kollegial, freundschaftlich, miteinander!“
IG Metall: Arbeitskampf als Option
Oliver Dietzel von der IG Metall machte deutlich, dass die aktuellen Tarifverhandlungen schwierig bleiben. Er kritisierte nicht nur die geopolitischen Rahmenbedingungen, dass VW 30 Milliarden im Dieselgate versenkt hat, sondern auch das Fehlen entscheidender Impulse der Bundesregierung. Dietzel stellte klar: „Ohne Einigung droht ein Arbeitskampf – bis hin zu unbefristeten Streiks.“ Die IG Metall sei bereit, mit einem Vorschlag in Höhe von 1,5 Milliarden Euro zur Stabilisierung der Arbeitsplätze beizutragen, doch der Ball liege jetzt bei der Unternehmensführung.
Werkleitung: Realismus und Zuversicht
Werkleiter Jörg Fenstermann betonte, dass die finanzielle Situation des Werks angespannt sei. Mit einem Umsatzrückgang von vier Prozent seit Jahresbeginn sei die wirtschaftliche Lage ernst. Dennoch zeigte er sich zuversichtlich: „Wir sind an Zukunftsprojekten beteiligt“, wie der Fertigung von Batterierahmen und Leistungselektronik. Man habe es in der Hand, den Standort Kassel zu sichern – wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Politische Unterstützung und langfristige Perspektiven
Auch politische Unterstützung war Thema der Versammlung. Der hessische Wirtschaftsminister Kaweh Mansoori betonte die Bedeutung der Automobilindustrie für die Region und verwies auf die Fortschritte bei der Lithiumproduktion in Hessen, die künftig die deutsche Automobilindustrie stärken könnte. Auch Baunatals Bürgermeister Henry Richter war unter den Gästen, ohne Das Wort zu ergreifen.
Dr. Thomas Steg erkennt politisch zu lösende Schwachpunkte. Der E Up sei das klare Signal, dass E Autos zwischen 20.000 und 25.000 Euro machbar sind und vom Kunden akzeptiert werden. „Wir haben Plug-in Hybride unterschätzt.“ Das sei ein strategischer Fehler gewesen.
Flexibilität der Belegschaft am Limit
Nach der Pause machte Daniela Ullrich von der Personalabteilung deutlich: „Die Lage ist ernst und kritisch.“ Diese Worte fanden später Resonanz in den Redebeiträgen der Belegschaft.
Sven Grieß vom Betriebsrat brachte die Stimmung der Belegschaft auf den Punkt: „Mitarbeiter geben und bekommen nichts für ihre jahrelange Flexibilität. Es geht nur um Personalabbau und nichts weiter.“ Er appellierte an die Unternehmensleitung: „Noch mehr Flexibilität und Engagement kann nicht erbracht werden. Jetzt seid ihr dran!“
Zukunft der Leiharbeiter – Standortsicherung durch Projekte und Einsparungen
Die Situation der 1785 Zeitarbeiter und befristeten Verträge bleibt angespannt. Ullrich kündigte an, dass Entscheidungen über auslaufende Verträge in der kommenden Woche getroffen werden sollen. Rund 400 befristete Verträge laufen ohne tarifvertragliche Anschlussregelung Ende des Jahres aus.
Fenstermann berichtete von Fortschritten bei der APP550, deren Auslastung von 106 auf 111 Prozent gesteigert wurde. Allerdings gebe es weiterhin deutliche Produktivitätsdefizite, die das Werk jährlich 300 Millionen Euro kosten. Die Fertigung des DQ381-Getriebes könnte wirtschaftlich sinnvoll sein.
Personalmaßnahmen und Effizienzprogramme
Die Personalabteilung präsentierte weitere Maßnahmen, um die finanzielle Stabilität des Standorts zu sichern. Ein Ergebnisverbesserungsprogramm (EVP) sieht eine Reduktion der indirekten Stellen von derzeit 1537 auf 1230 bis 2026 vor. Neben Aufhebungsverträgen und Altersteilzeit sollen bestehende Effizienzprogramme wie „GRIP Future“ und „Next Level Komponente“ weiter ausgebaut werden.
Trotz der angespannten Lage blieb der Zusammenhalt der Belegschaft spürbar. „Wir sind ‚on fire‘ zu kämpfen,“ erklärte Sven Grieß, woraufhin die Mitarbeiter demonstrativ aufstanden und Applaus die Halle erfüllte. Der Kampf um den Standort Kassel ist noch nicht vorbei, aber die Belegschaft sendet ein klares Signal: „Wir halten zusammen.“ (rs)