Diskussion um eine Potenzialfläche in Baunatal
BAUNATAL. „Die Stadtverordnetenversammlung beschließt, die Planung zum ‚Neubaugebiet Großenritte Nord‘ einzustellen und keine Änderungen im Regionalplan und im Flächennutzungsplan zu beantragen.“ So lautete ein Antrag von Baunatals GRÜNER Fraktion in der gestrigen Stadtverordnetenversammlung.
Wer in den Protokollen der Stadtverordnetenversammlung oder des Magistrats blättert, findet tatsächlich keinen Beschluss über ein Baugebiet oder eine Planung. Alle Reaktionen und Diskussionen sind Folge einer Untersuchung und eines Entwicklungskonzeptes der Universität Kassel, das jetzt Gegenstand weiterer Untersuchungen ist, die dann irgendwann in Planungen einmünden könnten.
Zwei konkurrierende Anträge
Prompt erfolgte von CDU und SPD ein konkurrierender Antrag, der verkürzt zum Inhalt hat, den Magistrat zu beauftragen, die Anstrengungen zur bedarfsgerechten Schaffung von Wohnraum nach den Kriterien „Innenentwicklung vor Außenentwicklung, veränderten Wohnraumbedarf durch Veränderung der Altersstruktur und der Lebenswirklichkeit, Entwicklung des Fachkräftebedarfes, gesellschaftlicher Veränderungen und bezahlbare des Wohnraumes für alle weiter voranzutreiben.
So kreiste die Diskussion über ein Baugebiet „Nord“ – wie in Alfred Hitchcocks Film-Klassiker North by Northwest – um ein Phantom. Es bleibt eine unsichtbare Kraft oder eine unsichtbare Person.
Baunatal darf nicht mehr als 30.000 Einwohner haben
Lothar Rost (B90/GRÜNE) begrüßte zunächst die Gäste: „Sie sind deshalb gekommen“, und begründete den Antrag: Die GRÜNE Interpretation der Ausführungen zum Wohnraumbedarf laut Uni Kassel ist: Die Entwicklung hängt ab von einem nicht kalkulierbaren Zuzug (auch nicht deutscher), Geburten- und Sterberaten. Er beschreibt drei mögliche Varianten, die sehr weit auseinanderliegen, nämlich von –800, +400 oder + 2000 Einwohner. Die Mitte mit 400 schätzen die GRÜNEN am plausibelsten ein.
- Es handelt sich um Wasserschutzgebiet und ein Frischluftentstehungsgebiet.
- 2.800 zusätzliche Fahrzeuge würden durch Großenritte fahren.
- Ein weiterer Anschluss an die Landesstraße stünde schon im Haushalt.
- Er sieht Artenschutzkonflikte und den Verlust von Boden mit dem höchsten Wert von „5“.
Auch eine Obergrenzen-Diskussion wurde angestoßen: Baunatal sollte nicht mehr als 30.000 Einwohner haben. Es gäbe bereits Bebauungspläne für 400 und Verdichtungspotenzial mehreren tausend Einwohnern.
Udo Rodenberg: Flächenbedarf steigt auch ohne Wachstum
Udo Rodenberg (SPD) begründete den konkurrierenden Antrag. Es gehe bisher nur um Rahmenbedingungen. Die Stadtverwaltung habe Untersuchungen in Auftrag gegeben. Die Zahl Hochbetagter werde in Baunatal deutlich steigen, auch Familien mit Kleinkindern nehmen zu. Sie könnten in größere Wohnungen ziehen, in denen Senioren häufig weiterleben müssen, weil sie keine kleinen Wohnungen finden. „Wir brauchen auch Fachleute, die Wohnungen finden müssen“, verwies er auf die Arbeitsmarktsituation. Die Innenraumverdichtung stößt an Grenzen und kann nur langfristig geplant werden. Von über 150 Grundstücksbesitzern, deren Flächen dafür genutzt werden könnten, wollen nach einer Befragung nur 2 ihre Grundstücke verkaufen. Wohraubedarfe ließen sich nur über Außenentwicklung absichern. Die GRÜNEN hätten im Gutachten zur Bevölkerungsentwicklung von Prof. Dr.-Ing. Uwe Altrock (Uni Kassel) einen wesentlichen Teil nicht erwähnt. Nämlich, dass der Flächenbedarf auch ohne eine höhere Bevölkerung um 3 Quadratmeter pro Kopf steigen wird, weil immer mehr 1 oder 2 Personenhaushalte jeweils Wohnungen mit Bad und Küche benötigen. Der behaupteten Planung hielte entgegen, es werde zurzeit aber gerade erst geprüft, welche Flächen überhaupt geeignet sind. Jetzt erst gehe es darum, eine Planung voranzutreiben unter Prämisse Innen vor Außen. Wohnungen dürfen nicht zum Luxus werden, was die Folge es GRÜNEN-Antrages wäre.
Sebastian Schlüssel: Enteignung und Grundsteuer C bei Innenentwicklung
Sebastian Stüssel (CDU) empfindet den Antrag als ein „Starkes Stück! Es gibt gar kein Neubaugebiet!“ Die Stadtverordneten können nicht die Einstellung einer Planung auf ein Neubaugebiet einstellen, dass es noch gar nicht gibt. Es gibt keine Planung, es gibt nur Untersuchungen. Es geht um Flächenpotenziale. Es wurde auch nicht über 23 Hektar entscheiden.“ Die Regionalplanung habe diese Potenziale lediglich ermittelt. Sein Ansatz: Wir brauchen ein Quartierskonzept. Wir brauchen auch Ärzte, Kindergärten und Schulen. Die Schule in Großenritte ist jetzt in der Planung schon zu klein. Wo stellen wir die denn hin, fragt er und die GRÜNEN sprechen von 16 Hektar Innenflächen. Das gehe nur über Enteignung, Baulandumlegung und eine Grundsteuer C auf nicht bebaute Flächen, um Verkaufsdruck zu erzeugen. Menschen unter Druck zu setzen, wäre die Konsequenz, welche die Grünen verschweigen: „Das lassen wir nicht durchgehen!“
Dr. Rainer Oswald ahnte nicht, dass Landwirte nicht verkaufen wollen
- Dr. Rainer Oswald (FDP) erwidert zur Notwendigkeit für ein Quartier mit Kindergärten und Schulen, er habe schon ganze Schulzentren wieder verschwinden sehen. Stadtentwicklung gehöre aber nicht zu seinen Lieblingsthemen. Er weigere sich allerdings grundsätzlich, jemandem an das Eigentum wollen. Auch landwirtschaftliche Flächen gehören nicht in die Planung, das könne man im Interesse der Stadtgemeinschaft nicht machen. Er erinnerte sich, man habe die Flächen gemeinsam „ausbaldowert“ aber er habe nicht gewusst, dass die Flächen nicht zur Verfügung stehen. Die FDP werde sich bei beiden Anträgen enthalten.
- Andreas Mock (CDU) fällt auch auf, dass 23 Hektar nie erwähnt wurden. Er machte den GRÜNEN ein Kompliment, dass sie jetzt die Landwirtschaft entdeckt haben. Führende GRÜNEN-Politiker wohnten selbst in einem Neubaugebiet, das früher einmal Ackerland war und fragte, „Heulen sie nachts ins Kissen? Sie haben Ihr Haus ja!“ Andere noch nicht, aber eine Verkehrsbelastung entstünde in gleicher Höhe bei Nachverdichtung. Auch das werden Anwohner nicht wollen. Die GRÜNEN selbst hätten eine Nachverdichtung sogar für Tiny-Häuser abgelehnt. „Wir werden überall Widerstände bekommen. Auch wenn der Bauna-Sprinter kommt, werden wir Proteste bekommen wegen Lärm. Es gehe um die grundlegende Frage, „wo wir die Stadt hinführen“.
Daniel Jung: „Bevölkerungsgruppen nicht gegeneinander“, sondern Konsens
Zwischendurch ergriff erster Stadtrat Daniel Jung das Wort zur Aufklärung: er begrüße die Auseinandersetzung, aber nicht die Art, wie sie geführt wird: „Wir verlieren die Sachlichkeit.“ Auch er begrüßte die anwesenden Bürger der BI. Es gäbe immer Konkurrenzen und immer verschiedene Interessen, „und am Ende spielen wir Bevölkerungsgruppen gegeneinander aus. Alt gegen Jung, große gegen kleine Stadtteile, Mieter gegen Hauseigentümer. Es ginge jetzt darum, Gemeinsamkeiten suchen: „Innen vor außen ist Konsens. Auch im Innenbereich muss ich mich mit Eigentümern auseinandersetzen.“ Man könne sich jetzt nicht auf „Eins“ festlegen, sondern müsse beides parallel betreiben. Man habe ganz bewusst keinen Bebauungsplan auf den Weg gebracht, denn „wir wollen Fakten klären. Da wo der politische Handlungsauftrag beginnt, können wir nicht eine Variante vorschnell rausnehmen. Die Zahl von 23 Hektar halte sich hartnäckig, sei aber auch in der Absichtserklärung nicht erwähnt. Er habe bereits vor einem Jahr eine Größenordnung oder festgelegte Fläche abgelehnt: „Wir machen nicht Halt in der Wohnraumanalyse, sondern wir wollen alles wissen! Es gehe darum, für Baunataler in allen Lebensphasen günstigen Wohnraum zu schaffen. Politik könne nicht leichtfertig an einer Stelle kneifen, sondern müsse alle Potenziale weiter untersuchen und Dialog weiterführen. Das sei auch für den Frieden in der Stadt wichtig.
Heute Bedarf prüfen – morgen entscheiden vielleicht andere …
- Dr. Rainer Oswald (FDP) ermahnte noch einmal, man müsse auf Konsens setzen: „Wir wissen noch gar nicht, was wir wollen.“ Das müsse man ökonomisch betrachten. Viele Interessenten für Wohnungen auf der Liste gäbe es gar nicht mehr.
- Monika Woizeschke-Brück (B90/GRÜNE) Oswald und Jung, man könne das. Anliegen der Bürger nicht vom Tisch wischen.
- Thomas Gerke (CDU) ging noch einmal auf die Untersuchung der Uni Kassel ein, die auch erwähnte, dass man bei der letzten Studie einen Rückgang prognostiziert habe. Tatsächlich sei ein Bedarf entstanden. „Wir wissen nicht, was wirklich kommt! Warum hier und heute festlegen? Wir wollen ergebnisoffen weiterdiskutieren. Wer weiß, ob nicht ein ganz anderes Publikum später darüber unter ganz anderen Gesichtspunkten entscheidet. Die Welt dreht sich heute so schnell.“
Am Ende wurde der Grünen-Antrag auf Beendigung einer Planung mit Stimmen von SPD und CDU bei Enthaltung der FDP abgelehnt und der Antrag von SPD und CDU mit gleichem Stimmanteil – bei einer zusätzlichen Enthaltung – angenommen.
Der Baunsberg ist nicht Mount Rushmore
Alfred Hitchcock hat es einmal geschafft, einen aufregenden, aber zugleich humorvollen, zweistündigen Film „North by Northwest“ (übersetzt: Nord bei Nordwest/deutscher Filmtitel: der unsichtbare Dritte) um geheimnisvolle Dokumente zu drehen, deren Inhalt auch nach dem Ende des Films im Verborgenen und ungeklärt bleibt. Es geht um Spannung und Zuschauerbindung. Inhalt und Handlung sind für den großen Meister dabei völlig irrelevant geblieben. Für solch eine Inszenierung bedarf es allerdings eines genialen Regisseurs, damit das Geheimnisvolle nicht zum Offensichtlichen wird … (Rainer Sander)
2 Kommentare
Dem Inhalt des Artikels muss in wesentlichen Punkten widersprochen werden. Denn wer in den Protokollen der Stadtverordnetenversammlung oder des Magistrats blättert, findet in Ausgabe 10/2023 vom 8.3.2023 über die Stadtverordnetenversammlung vom 27.02.2023 tatsächlich die Darlegung des Beschlusses über die Vereinbarung mit der Deuhab. Zitat: „Konkret geht es um die Errichtung eines ca. 23 Hektar großen Neubaugebiets nördlich von Großenritte“. Selbst das Ergebnis der Abstimmung ist dort nachzulesen. Bei etwas mehr journalistischer Sorgfalt hätte der Autor dies leicht herausfinden können.
Darüber hinaus sind die Untersuchungen der UNI Kassel die Folge von Diskussionen und Reaktionen auf oben genannten Beschlusses und nicht umgekehrt.
Wenn die verhärteten Fronten und die angenommene Dimension der Stadtentwicklung auf diesen Artikel in den Baunataler Nachrichten zurückzuführen sind, hätten wir uns einen großen Teil der Aufregung sparen können. Tatsächlich sind die zitierten Passagen im Bericht über die Stadtverordnetenversammlung enthalten. Eine korrekte Wiedergabe des Beschlusses sind sie gleichwohl nicht.
Die Zahl von 23 Hektar ist im Beschluss und in der Beschlussvorlage einzig nur als Teil der mit dem Zweckverband Raum Kassel abgestimmte innerörtliche Potenzialfläche genannt. Dabei handelte es sich nicht um den Umfang der Erweiterung, sondern nur die Suchfläche, innerhalb derer eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme zusammen mit der deuhab identifiziert werden sollte. Wer den vorm Stadtverordnetenvorsteher verlesenen Beschluss verfolgte, konnte hören „Die Lage und Größe der zu entwickelnden Fläche steht noch nicht fest, sondern ist anhand der maßgeblichen städtebaulichen Belange noch durch die Stadt Baunatal näher zu bestimmen. Hierfür sind weitere Untersuchungen erforderlich.“
Bei der größten journalistischen Sorgfalt hätte der Autor daher auch zu keinem anderen Ergebnis kommen können, als es sein Beitrag wiedergibt.
Über Ursache und Wirkung, über Henne und Ei, kann man gleichwohl aus beiden Richtungen spekulieren.
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