Dr. Johannes Loewenstein geht in Ruhestand
SCHWALMSTADT-TREYSA. „Unsere Leute“, damit beginnen viele Sätze, die Dr. med. Johannes Loewenstein (67) formuliert. Menschen mit Behinderungen standen für ihn seit mehr als 20 Jahren im beruflichen Mittelpunkt. Im Oktober 2002 trat er die Stelle des Bereichsleiters Gesundheit und Therapie der Hephata Diakonie an. Zum 1. Mai ist der Facharzt für Allgemeinmedizin nun in den Ruhestand gegangen.
Der 67-Jährige war 25 Monate länger im Dienst als geplant, um seinen Nachfolger, Ulrich Remhof, zu unterstützen, solange die zweite Arztstelle noch nicht wieder besetzt werden konnte. Er bedauert, dass dies bis jetzt noch nicht gelungen ist. Ein Problem, das viele Krankenhäuser und niedergelassene Kollegen ebenfalls kennen. „Es wird jetzt aber Zeit für mich, zu gehen. Ich brauche endlich mehr Zeit, um Kontakte und Hobbys zu pflegen und meine Mutter zu unterstützen.“
ANZEIGE
Johannes Loewenstein stammt aus Ahrensburg bei Hamburg. Er studierte in Köln Medizin und beendete den letzten Teil seiner Facharztausbildung auf Borkum. Nach einer fast viermonatigen Fahrradreise durch Skandinavien kehrte er für ein Jahr auf die Insel zurück, um in einer der vier Hausarztpraxen zu arbeiten. „Auf der Insel habe ich zum ersten Mal in der Hausarztfunktion gearbeitet. Von Sonnenbrand und Durchfall über Glasscherbe im Fuß und Asthma-Anfall bis hin zu Herzinfarkt und Kinder-Notfall habe ich so ziemlich alles erlebt, auch den Krankentransport auf einem Boot oder mit dem Hubschrauber.“
Ausgefallene Arbeitsbedingungen gehören eben zu seinem Portfolio: Von 1994 bis 1996 war Loewenstein beim Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven angestellt, das die Neumayer-Station, eine Forschungsstation in der Antarktis, betreibt. Dort arbeitete er 17 Monate als Stationsarzt und Stationsleiter und half bei den Forschungsarbeiten. „Ich wollte nach Borkum etwas anderes machen, mich aber nicht als Arzt niederlassen. Dann habe ich die Stellenanzeige des AWI gelesen und mich beworben.“ Bevor es losging, musste er unter anderem einen Gletscher-Kletterkurs in den Alpen und einen Basis-Kurs zur Zahnbehandlung absolvieren: „Ich musste dann aber zum Glück nur bei mir selbst eine Zahnfüllung provisorisch ersetzen. Gravierendes ist nicht passiert.“ Rückblickend bezeichnet der 67-Jährige diese Zeit als Wendepunkt in seinem Leben. „Die Zeit war anstrengend, aber fantastisch mit dieser Landschaft nur aus Eis, Schnee und Licht mit den Pinguinen und Robben. Ich wollte diese Erfahrung nicht missen.“
Danach war Loewenstein von 1997 bis September 2002 beim ärztlichen Dienst des Kalandshofs der Rotenburger Werke (Wümme) in Niedersachsen beschäftigt. „Ich hatte vorher nie beruflich mit Menschen mit Behinderungen zu tun. Ich dachte, die Stellenanzeige sieht interessant aus.“ Nach einer zweiwöchigen Probezeit auf einer geschlossenen Wohngruppe der Einrichtung bekam er den Job. Im Oktober 2002 wechselte er diesen gegen die ärztliche Leitung auf dem Hephata-Stammgelände in Schwalmstadt-Treysa. Damals war er verantwortlich für 600 Patienten, der Bereich hatte 3,5 Vollzeitstellen für Ärzte. Heute sind es zwei fest angestellte Ärzte für 450 Patienten, stundenweise unterstützt von zwei Honorarärzten.
„Ich war mir der großen Verantwortung sehr bewusst. Die Ärzte draußen sind überlaufen. Es wird zunehmend schwieriger, für unsere Leute zeitnah Termine bei Fachärzten zu bekommen.“ Zudem habe er so manches Mal völlig widersprüchliche Verläufe erlebt. „Unsere Leute haben oft ein anderes Schmerzempfinden oder können sich nicht artikulieren oder wollen sich nicht untersuchen lassen.“ Loewenstein hat Patienten mit einem Oberschenkelbruch erlebt, die noch gelaufen sind. Und andere haben Zahnschmerzen geäußert, das Problem lag aber ganz woanders. „Dann möchte der Patient aber nicht den Mund öffnen, damit man nachsehen kann. Und mit einer Narkose könnte er ja auch nicht sagen, wo es schmerzt. Da braucht man Erfahrung und Menschenkenntnis. Das macht die Arbeit mit unseren Leuten anspruchsvoll.“
Anspruchsvoll war die Arbeit auch insbesondere in der Corona-Pandemie. „Ich hatte bereits 2006/2007 einen Pandemieplan für Hephata initiiert. Den mussten wir bei Corona anpassen.“ Zirka 5.000 Impfungen haben er, Impfteams der Hephata-Klinik und der Hephata-Behindertenhilfe gemeinsam mit den mobilen Impfteams des Landkreises verabreicht. „Das war eine schwere, aber auch aufregende Zeit.“
Für seinen Ruhestand hat sich Johannes Loewenstein vorgenommen, das Leben mehr zu genießen. „Das muss nicht was Großes sein. Wenn man sieht, was ein Vogel mit zwei Gramm Hirn schafft, merkt man, die Wunder sind um uns herum. Die Welt ist großartig und die Schöpfung fantastisch.“ In ihr ist er gerne mit dem Fahrrad unterwegs, bis auf bei Glatteis bei jedem Wetter. Er schraubt gerne an seinen Fahrrädern, spielt Gitarre, fotografiert und scannt seine Dias oder setzt die Technik für seinen Vortrag zur Antarktis in Stand. „Deutschland hat viele schöne Gegenden, die ich mir noch anschauen möchte. Jetzt kann ich mir die Zeit dafür nehmen.“
Wird er Hephata vermissen? „Mein Job war immer abwechslungsreich und spannend. Ich habe hier sehr gerne gearbeitet. Unsere Leute sind sehr dankbare Patienten.“ (pm/wal)
ANZEIGE