Interview mit Minister Timon Gremmels
NIESTETAL | WIESBADEN. Der Niestetaler SPD-Bezirksvorsitzende Nordhessen Timon Gremmels gehört seit mehr als zwei Wochen als Minister für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur dem Kabinett in Wiesbaden an. Dafür hat er seinen Sitz im Bundestag geräumt und ist nach Wiesbaden zurückgekehrt. nh24-Redakteur Rainer Sander durfte mit ihm sprechen.
nh24: Sie sind ein paar Jahre weg aus Wiesbaden. Fühlt sich das wie ein Déjà-vu an?
Timon Gremmels: In Teilen schon, aber ich empfinde es als ein sehr angenehmes Déjà-vu! In Wiesbaden hatte ich als Landtagsabgeordneter, aber auch schon vorher viele intensive Begegnungen, Gespräche und Veranstaltungen – zum Beispiel als Referent der SPD-Landtagsfraktion. Dabei habe ich viele Menschen kennen- und schätzen gelernt.
nh24: Den Landtagswahlkampf haben Sie auch als Bundestagsabgeordneter mitgemacht. Sind sie schon voll drin in den Landesthemen?
Timon Gremmels: Ich habe mich für den Wahlkampf mit vielen unterschiedlichen Themen beschäftigt, aber natürlich kann eine einzelne Person nicht in allen Sparten ausgewiesener Experte sein. Für jemanden, der eine Führungsverantwortung übernimmt, ist entscheidend, dass er bereit ist, sich darauf einzulassen und zu führen. Was mein Ressort – Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur – angeht, freue ich mich auf die intensive Auseinandersetzung mit spannenden und vielfältigen Themen. Es gibt in all meinen Ressortbereichen viele dringende Projekte, die ich mir nach und nach anschaue und mit den Beteiligten ins Gespräch komme.
nh24: In Berlin lagen Sie knapp unter dem Fraktionsdurchschnittsalter. In Hessen, wenn ich richtig gerechnet habe, knapp darüber. Was bringen Sie in Fraktion und Kabinett an jungen Ideen ein?
Timon Gremmels: Ich bin der Auffassung, dass Ideen nicht unbedingt jung sein müssen, sondern vor allem gut. Die Idee, die Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen, ist alt und trotzdem eine der wichtigsten Missionen unserer Zeit. Ich werde mich aber darüber hinaus auch Themen widmen, die manchmal hinten herunterfallen. Mir ist es wichtig, neben all den großen, immer wiederkehrenden Themen auch den kulturellen Puls unserer Zeit zu spüren und zu wissen, was junge Menschen bewegt.
nh24: Sie gehören zu den „gelernten“ Berufspolitikern, haben Politikwissenschaft studiert, waren Mitarbeiter im Abgeordnetenbüro und Mitarbeiter im Parlament, bis Sie selbst Abgeordneter wurden. Ist es ein Nachteil, keine längere Zeit außerhalb des Politikbetriebes gearbeitet zu haben?
Timon Gremmels: Das finde ich nicht. Ich habe schon früh für mich entschieden, dass ich gestalten und mich für meine Mitmenschen einsetzen möchte, auch und gerade durch meine Zugehörigkeit zur queeren Community. Ich bin Politiker mit Leib und Seele, habe aber auch Erfahrung in der freien Wirtschaft als ehemaliger Vorstandsreferent der SMA Solar Technology AG.
nh24: Sie haben schon in den Koalitionsgesprächen aktiv mitgearbeitet. Haben Sie der CDU und Boris Rhein ein paar „Zähne gezogen“?
Timon Gremmels: Wir sind Koalitionspartner auf Augenhöhe, wir behandeln uns gegenseitig mit Respekt und Achtung. Trotzdem haben wir die Inhalte durchgesetzt, die für uns nicht verhandelbar waren – zum Beispiel, dass die Transformation der Arbeitswelt nicht auf dem Rücken der Beschäftigten stattfindet. Das betrifft auch das Wissenschaftsressort. Ich werde mich zum Beispiel intensiv dafür einsetzen, dass wir die notwendige wissenschaftliche Basis für diese Prozesse intensiv unterstützen. Sehr wichtig war auch die Reform des hessischen Tariftreue- und Vergabegesetzes, die dafür sorgen wird, dass sich öffentliche Aufträge künftig an Tariflöhnen orientieren. Zudem haben wir den echten Ganztag an den hessischen Schulen durchgesetzt, die Vergütung von angehenden Erzieherinnen und Erziehern während der Ausbildung sowie den Einstieg in die Entlastung der Kommunen von den Betriebskosten für die Kitas.
nh24: Was sind die wichtigsten Aufgaben, die sich die neue Koalition jetzt vorgenommen hat?
Timon Gremmels: Wir leben in einer Zeit, in der unsere Demokratie unter Feuer steht, in der sie angegriffen wird von ganz, ganz verschiedenen Seiten. Wir müssen sie vor diesen Angriffen schützen, das ist eine der wichtigsten Aufgaben, vor denen wir stehen. Kunst, Kultur und Wissenschaft leisten einen extrem wichtigen Beitrag dazu. Wir müssen vermitteln, dass wir uns kümmern, in allen Belangen: von der Gesundheitsversorgung über die Sicherung von Infrastrukturen und der Bewältigung des Klimawandels bis hin zur Transformation der Arbeitswelt.
nh24: Sie sind Minister für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur. Was können Sie dort gestalten, welche Themen drängen sich auf?
Timon Gremmels: Kunst und Wissenschaft sind genuine Bestandteile einer funktionierenden demokratischen Öffentlichkeit. In meiner Amtszeit werde ich mich dafür einsetzen, dass die Förderung von Wissenschaft und Forschung eng mit der kulturellen Entwicklung verknüpft wird. Kreativität und Innovation sind untrennbar miteinander verbunden, und eine blühende Kultur ist der Nährboden für Fortschritt und Verständnis. Das Potenzial der Forschung sowie der hessischen Universitäten und Hochschulen für Angewandte Wissenschaften müssen wir nutzen, um die Transformation der Industriegesellschaft zu unterstützen und um zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen. Daran arbeiten wir auch hier in Nordhessen – zum Beispiel am Kassel Institute for Sustainability. Kunst und Kultur sind Voraussetzungen dafür, dass wir demokratisch zusammenleben können, weil wir hier Erfahrungen miteinander teilen können, die keinen unmittelbaren Zweck erfüllen müssen. Deshalb ist wichtig, dass möglichst viele Menschen Zugang zu ihr haben. Dafür brauchen wir auf dem offenen Meer der kulturellen Vielfalt sowohl die Supertanker – unsere Landesmuseen und Staatstheater – als auch die freie Kulturszene und die vielen kleinen Kunst- und Kulturprojekte. Wichtig ist mir, dritte Orte der kulturellen Begegnung zu schaffen: Im Kino können Lesungen neugierig auf neue Romane machen, Bibliotheken bieten Platz für Kinoabende. Das alles lebt auch von Menschen, die andere für Kunst begeistern.
nh24: Sie sind nun auch der zuständige Minister für die documenta. Ist es gut, dass das endlich ein Nordhesse macht, und was sagen Sie Claudia Roth zur Zukunft der Ausstellung in Kassel?
Timon Gremmels: Es ist wichtig, dass wir uns jetzt und schnell um die kommende documenta kümmern – und das mit allen kritischen Fragen und Anregungen. Das hat Priorität und ist unabhängig von der regionalen Herkunft. Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind, auch in der Diskussion mit der Stadtgesellschaft. Inzwischen liegen verschiedene Gutachten vor, die wir bewerten müssen. Wichtig ist, dass wir bis April zu einer Entscheidung kommen, damit die Findungskommission tagen kann und wir bis Ende des Jahres eine künstlerische Leitung haben. Ziel ist, dass die nächste documenta – wenn irgend möglich – fristgerecht starten kann und Kassel 2027 wieder für 100 Tage im Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit steht. Ich hoffe, dass nur noch über Kunst gesprochen wird. Fest steht für mich aber auch, dass die documenta keinen Minister braucht, der auf den Tisch haut – das entspricht eh nicht meinem Führungsverständnis. Wir brauchen stattdessen einen Dialog. Deshalb werde ich in der nächsten Zeit weiterhin viele Gespräche führen. Ich möchte nicht, dass die Vorbereitung der kommenden documenta im Streit zwischen Bund, Land und Kommune endet. Das sind wir der documenta schuldig, das sind wir der Tradition schuldig, das sind wir der Kunst und Kultur schuldig.
nh24: Mit welchem Gefühl sind Sie jetzt in Wiesbaden?
Timon Gremmels: Mit einem sehr guten. Als neuer Minister für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur ist es mir eine große Ehre, diese bedeutenden Ressorts zu leiten. Ich werde eine starke Stimme für die hessischen Kultur-, Kunst-, Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen und auch für die nordhessischen Interessen am Kabinettstisch in Wiesbaden sein. Nach 14 Jahren Parlamentsarbeit muss ich mich nun aber daran gewöhnen, dass Zwischenrufe von der Regierungsbank aus nicht mehr gehen. Das fällt mir schwer. Ich war immer ein leidenschaftlicher Zwischenrufer und bin stolz darauf, nie einen Ordnungsruf erhalten zu haben.
nh24: Mit welchem Gefühl haben Sie Berlin verlassen?
Timon Gremmels: Ich freue mich auf meine neuen Aufgaben. Zugleich ist mir der Abschied aus Berlin nicht leichtgefallen. Es war eine tolle Zeit, in der ich viel mitbewegen konnte. Durch meine Arbeit im Bundesrat bin ich aber weiterhin auch regelmäßig in Berlin und mit Bundespolitik beschäftigt.
nh24: Im Gegensatz zum Abgeordnetendasein fahren Sie als Minister nicht nur in den Sitzungswochen nach Wiesbaden. Wird das eine schwierige Veränderung?
Timon Gremmels: „Nichts ist so beständig wie der Wandel“, wusste schon Heraklit. Ich habe große Lust auf meine neue Aufgabe in Wiesbaden und werde mit den persönlichen Veränderungen, die damit einhergehen, gut zurechtkommen.
nh24: Herr Gremmels, vielen Dank für das Gespräch.
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1 Kommentar
Die documenta braucht überhaupt keine politische Einflussnahme, die am Ende nur die Kunstfreiheit einschränkt. Die Politik hat wenn überhaupt nur den wirtschaftlichen und organisatorischen Rahmen sicherzustellen, eine inhaltliche (Selbst-)Zensur darf es aber nicht geben. Hierzu gibt es übrigens auch eine wie ich finde unterstützenswerte Online-Petition: https://www.change.org/p/standwithdocumenta-rettet-die-freiheit-der-kunst
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