Dachdeckerinnung Kassel steht mächtig unter Dampf
KASSEL. Den 22. Juni 2023 werden Kasseler, Kasselaner, Kasseläner so schnell nicht vergessen. Neben verbeulten Autos und umgestürzten Bäumen gab es vollgelaufene Keller, abgedeckte Dächer, zerschlagene Dachfenster und Sanitärlüfter, durchschlagene Ziegeln, durchlöcherte Kunststoff-Dachrinnen und Lichtplattendächer sowie perforierte Dachfolien. Tief „Lambert“ hat in der Stadt ganze Arbeit geleistet.
Auch der Landkreis ist betroffen. Dachdecker sind seitdem gefordert. Dachdeckermeister Peter Bärwald, Firma Bärwald & Zinn GmbH aus Fuldatal, ist im Vorstand der Innung und schätzt die Schäden an Dächern, die zu beseitigen sind, allein in seinem Betrieb auf insgesamt 1.600. „Das“, so sagt er, „ist mehr als eine echte Herausforderung.“ Auch Kollegen wie Dachdeckermeister Daniel Schenn, Patrick Becker, Jörg Halberstadt und Heiko Rudolph berichten von Anfragen im 3-stelligen Bereich.
Noch immer Notfalleinsätze
Kaum waren Sturm und Hagel abgeklungen, standen Dachdecker auf den Dächern. Sie haben nicht nur den Donnerstag, sondern auch Freitag und das gesamte folgende Wochenende praktisch rund um die Uhr durchgearbeitet, um die schlimmsten Schäden zumindest notdürftig zu beseitigen oder abzusichern. Neue und vor dem Unwetter zugesagte Aufträge wurden zurückgestellt und fast alle Kunden hatten volles Verständnis dafür, dass jetzt Geschädigte des Unwetters zuerst dran sind.
Viele Schadensmeldungen gingen erst nach und nach ein. Noch immer hört das nicht auf. Daniel Schenn wundert sich, dass viele Schäden erst jetzt auffallen. Allmählich wird klar, bei normalem Arbeitspensum ist es kaum zu schaffen, alle Reparaturen und Sanierungen in kurzer Zeit zu stemmen. Peter Bärwald dazu ernüchtert, „auch mittelfristig ist es nahezu unmöglich.“ Aktuell liegen die Prioritäten bei Wohnhäusern, in denen es reinregnet und/oder wo Notsicherungen bestehen. Der Winter mit Regen und Frost steht vor der Tür. Terrassenüberdachungen, Vordächer, Carports und Kunststoff-Dachrinnen müssen etwas warten.
Verdoppelung der Aufträge bei fehlendem Material und Personal
Dachdeckermeister Patrick Becker, Johannes Becker GmbH aus Baunatal stellt die Frage, was passiert, wenn in den nächsten Monaten ein weiteres Unwetter über der Region Kassel niederginge. Das möchte sich auch Peter Bärwald nicht vorstellen: „Wir sind immer noch mit Absicherungsarbeiten beschäftigt, an alles andere ist noch nicht zu denken. Für viele Reparaturen und Instandsetzungen müssen erst Materialien bestellt werden, beispielsweise für Lichtkuppeln. Das ist keine Lagerware.“
Allein bei Bärwald & Zinn sind über 1500 Meldungen eingegangen. Unendlich viele Reparaturen, einige Komplettsanierungen und beschädigte Fassadenbekleidungen. Die meisten stammen von Bestandskunden, also aus Gebäuden, in denen das Unternehmen bereits früher tätig war. „Viele Neukunden mussten wir leider ablehnen. Noch immer konnten wir nicht alle Schadenfälle in Augenschein nehmen. Beschädigte Fassadenbekleidungen werden zuletzt besichtigt.“ Zinn und Bärwald haben seit dem Unwetter über 500 Angebote verschickt. Das sind über 300 mehr als im gesamten Vorjahr. Mehrere hundert weitere stehen noch aus.
Bei der Firma H. Rudolph Dacheindeckungen GmbH sieht es ähnlich aus. Dachdeckermeister Jörg Halberstadt, Jörg’s Dachdecker GmbH aus Kassel, berichtet nichts anderes: In einem von fehlenden Fachkräften geprägten Arbeitsmarkt standen wir Dachdecker bisher ganz gut da, und im aktuellen Ausbildungsjahrgang ist die Zahl der Lehrlinge sogar deutlich auf 50 gestiegen. Aber jetzt in großem Umfang Personal herbeizuzaubern, geht nicht.
Neubauten müssen warten
An Neubauten ist kaum zu denken, erklärt Dachdeckermeister Daniel Schenn, Firma Horch Dachdeckerei + Klempnerei GmbH aus Kassel. Patrick Becker aus Baunatal ist bestürzt, wenn Menschen am Telefon weinen. Er hat festgestellt: „Kleine Dächer, große Sorgen, große Dächer, kleinere Sorgen. Gewerbebetriebe kommen besser klar als Rentner mit kleinem Häuschen. Viele Versicherungen bezahlen nicht alles, vor allem nicht, wenn nicht mehr repariert, sondern ersetzt wird. Für alte Teile gibt es oft keine Ersatzteile mehr. Dann beginnt die Verzweiflung.
Zum Teil wird in zwei Schichten gearbeitet und bis spät in den Abend. Für Abbrucharbeiten werden Subunternehmer eingesetzt. Aber der Krankenstand steigt bereits, weil die Mitarbeiter pausenlos am Limit arbeiten. Betriebe aus entfernteren Regionen haben früher ausgeholfen. Aber: „fragen Sie mal einen Dachdecker aus Südhessen, der immer noch im Ahrtal im Einsatz ist, ob er mal eben ein paar Aufträge in Nordhessen übernehmen kann …“
Verständnis für ungehaltene Kunden – Zaubern und Hexen unmöglich
Dabei bringen die Innungsbetriebe jede Menge Verständnis für die Betroffenen auf. Es ist höchst unangenehm, unter einem notdürftig gesicherten Dach mit Angst vor dem nächsten Windstoß, Frost oder Schneelast – bei nicht mehr vorhandener Dämmung – nach oben zu schauen. „Am liebsten“, so Obermeister Joachim Schaumlöffel (Gudensberg), „würden wir den Hexenbesen auspacken und zaubernd über die Dächer fliegen“.
Betroffene Kunden sind ungehalten und der Meinung, dass doch nun endlich etwas passieren müsse. Aber eine Verdoppelung oder gar Verdreifachung der Auftragslage würde keine Branche stemmen können, und Fachkräfte fallen – im Gegensatz zu Hagel und Starkregen – nicht plötzlich vom Himmel. Das ist, darin sind sich alle Fachbetriebe einig, keine schöne und sogar sehr unbefriedigende Situation. Sie ist aber nur mit ganz viel gegenseitigem Verständnis, Rücksichtnahme, großem Vertrauen und einer langen Zeit mit solidarischer, gegenseitiger Unterstützung zu bewältigen: „Wir tun, was wir können, wohl wissend, dass das im Augenblick nicht reicht!“
Es könnte Jahre dauern – aber dann ist Kassel für lange Zeit sturmfest
Bis Kassel alle Dachschäden beseitigt hat, könnte es sogar Jahre dauern. Dann allerdings dürfte die documenta-Stadt nicht nur stolz auf 7000 Basaltsteelen und Eichen sein, sondern vielleicht auch auf mehr als 7000 neue Dächer, denen der nächste Sturm kaum noch etwas anhaben kann. Dann wird die Stadt ein weiteres Denkmal und die Dachdecker ein zusätzliches Kunstwerk vollbracht haben und so sturmfest wie keine andere deutsche Stadt sein. Bis dahin brauchen alle viel, viel und noch einmal viel Geduld. (rs)