Michael Weinreich kann hoffen – dank Peter Bärwald
KASSEL. Schon Tage voraus wusste Deutschland, dass Gewitter kommen. Einen Tag vorher zeichnete sich ab, in welchen Regionen etwas passieren würde. Stunden zuvor und zuletzt noch einmal Minuten davor warnte der Deutsche Wetterdienst vor schweren Unwettern. Michael Weinreich in Kassel-Harleshausen dachte um 17 Uhr, als es losging, dass auch dies vorübergehen wird …
Das hofften auch alle anderen Menschen in der nordhessischen Metropole, die sich tatsächlich gar nicht schützen konnten, und irgendwie kam es auch so: Es ging vorüber. Nur war für viele die Welt zu Hause danach nicht mehr so wie zuvor. Keine halbe Stunde hat der Spuk gedauert, bei dem 40 Millimeter dicke Hagelkörner die Kunststofffolien auf dem Flachdach der Weinreichs durchschlugen. Die Bitumenbahnen auf dem Vordach haben hingegen gehalten, ohne Spuren zu zeigen. Dachdecker Peter Bärwald ist sich sicher, „solch große Hagelkörner hat es in Kassel noch nicht gegeben und schon gar nicht in dieser Menge, mit so viel Regen vorweg und hinterher.“ Die Folgen des Klimawandels werden auch Auswirkungen auf die zukünftige Wahl von Baustoffen haben.
Wie 40 Millimeter das Leben verändern
Mit der wie ein Schweizer Käse durchlöcherten Dachhaut gab es kein Hindernis mehr für die Wassermassen. Sie durchdrangen die Dachkonstruktion, saugten sich in den Balken fest, durchdrangen die Zimmerdecken, bahnten sich den Weg zu den Außenwänden, wo zusätzlich Wasser durch beschädigte Blechprofile eindrangen. Durch die Wohnungen der Mieter, die Zwischendecken der Etagen und vor allem die Wände hinab erreichte das Wasser schließlich den Keller, wo es sich sammelte und „zum Stehen“ kam. Aber da gehört es nicht hin.
Drei Etagen komplett durchnässt, Wasser in allen Schränken und Möbeln, der Keller als Auffangbecken.
Notversorgung mit Teichfolie aus Mannheim
Noch am Abend besorgte der in Mannheim lebende Sohn der Familie Teichfolie. Im Baumarkt kaufte er – zur Verwunderung der „Ideengeber“ – den gesamten Vorrat auf. In Mannheim war von Katastrophenwetter schließlich nichts zu sehen, und wer sollte einen 100 Quadratmeter großen Teich bauen wollen?
Noch in der Nacht kam die Plane aufs Dach und ein Hilferuf ging bei Dachdecker Bärwald ein. Einer von inzwischen über 700. „Es hört noch immer nicht auf, berichtet der Fuldataler Dachdeckermeister: „Niemanden von den Hilfesuchenden will ich im Stich lassen. Zu 80 Prozent sind es Kunden, bei denen wir irgendwann schon einmal tätig waren.“ Neben der mangelnden Zeit, der fehlenden Fachkräfte, sind Lieferschwierigkeiten gerade das vordergründigste Problem. Dachfenster und Wohndachfenster oder Lichtkuppeln liegen nicht überall im Großhandel rum und warten auf Abholung und schon gar nicht in den Mengen und Massen.
Das Angebot erstellte Dachdeckermeister Peter Bärwald in der Nacht von Freitag auf Samstag.
Trotzdem geht es voran und drei Faktoren erleichtern die Hilfe:
- „Treue zahlt sich aus“, sagt Bärwald. Der Gerüstbauer, Gerüstbau Wagner aus Ahnatal ist als Geschäftspartner in dieser Situation gleich zur Stelle gewesen. Unter langjährigen geschäftlichen Weggefährten hilft man sich zuerst. Bereits am Dienstag, also 5 Tage nach dem Unwetter und 3 Tage nach dem Angebot stand das Gerüst, ohne dass es nicht geht. Bis dahin absolvierten die Weinreichs nach jedem noch so geringen Regen Patrouillengänge auf dem eigenen Dach.
- „Die Bauherren und Auftraggeber aller bestehenden Baustellen und solcher, die eigentlich jetzt Baubeginn gehabt hätten, hatten vollstes Verständnis, dass nach solch einer Katastrophe ihre Aufträge zurückstehen“, freut sich das Dachdeckerunternehmen.
- „Alle Mitarbeiter haben mitgespielt. Von Donnerstagnacht bis Sonntagabend haben wir immer bis zur anbrechenden Dunkelheit durchgearbeitet und von Montagmorgen bis Samstagabend ging es mit Überstunden weiter. Erst der übernächste Sonntag, also gestern, war der erste freie Tag. Das geht nur, wenn der Beruf auch eine Berufung ist. Eine große Portion Liebe zum Job gehört dazu!“
Nur deshalb war es möglich, bereits die Hälfte der 700 Notrufe so weit zu bearbeiten, dass zumindest eine Notversorgung gelang.
Ohne Alternative: Auszug und Komplettsanierung stehen an
Für Familie Weinreich ist auf einen Schlag alles anders geworden. Die beiden Mieter sind bereits ausgezogen und in ein paar Tagen kommt der Möbelwagen, holt das verschont geblieben vom Hab und Gut und bringt es in eine vorübergehende Behausung. Mit ein bisschen Glück können sie vor Weihnachten zurückkehren. Bis dahin darf aber nichts schief gehen.
Bis auf den Dachstuhl wird die gesamte Dachkonstruktion jetzt entfernt und es gibt ein komplett neues Dach. Diesmal aus Bitumen, in der Hoffnung, dass sich solche eine Katastrophe nicht wiederholt. Inzwischen kriecht der Schimmel an den Haus- und Innenwänden empor, denn das Wasser steht unter dem Estrich und sucht sich seinen Weg nach oben durch Mauerwerk und Putz. Sogar der muss ab! Die Feuchtigkeit kann in dieser Menge gar nicht verdunsten, auch weil jetzt Teichfolie auf dem Dach liegt und von unten absperrt. Das gesamte Haus ist renovierungsbedürftig.
Verständnis von den Nachbarn
Den Anfang muss der Dachdecker machen, damit kein weiterer Schaden entsteht und nicht weiteres Regenwasser den Weg ins Gemäuer findet. Firma Bärwald & Zinn freut sich, dass die Nachbarn Verständnis haben. Im Haus unmittelbar daneben kann das Carport vorübergehend nicht genutzt werden. Nur so finden die bereits gelieferten Dachpappe-Rollen und der Container zum Abtransport des Schutts überhaupt Platz.
Jetzt – Stunden später – da der Text fertig ist, rieche ich noch immer den muffigen Stock-Geruch in meiner Kleidung. Er beißt sich förmlich in die Nasenschleimhaut und kribbelt. Dabei bin ich im Haus selbst gar nicht gewesen. Allein die Ausdünstungen auf dem Dach für 15 Minuten haben gereicht. Dank Dachdecker und anderen Gewerken wird‘s wieder ein Ort zum Leben. Insgesamt leisten die Betriebe der Dachdecker-Innung Kassel gerade außergewöhnliches für die Betroffenen. (rs)