Volkswagen Soundorchestra live in Borken
BORKEN. Wenn mich Freunde oder Bekannte nach dem Volkswagen Soundorchestra fragen, antworte ich wahrheitsgemäß mit Ja und verknüpfe dies mit dem Hinweis: „Aber vergiss bitte die Hälfte von dem, was du über Orchester weißt.“ Vermutlich ist es besser, sogar alles zu vergessen und schon bin ich bei der Wahrheit: Tatsächlich habe ich das Ensemble oft gehört, aber kennt man es deswegen?
Am Samstagabend hat das Orchester im Rahmen des Kultursommer Nordhessen mitten im Themenpark Braunkohle und Energie des Borkener Bergbaumuseums unter freiem Himmel gespielt. „Musik wird störend oft empfunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden“, hat kein Geringerer als Wilhelm Busch einst festgestellt. Nicht gesagt hat er, dass nichts ohne sein Gegenteil wahr ist. Die Welt der Geräusche kann durchaus bereichernd, belebend, harmonisch, enthusiastisch und bombastisch sein. Was auch immer!
Musikalische und körperliche „Kontorsion“
Das Volkswagen Soundorchestra beschreitet musikalische Wege der „Kontorsion“. Als Kontorsionisten bezeichnet man Schlangenmenschen, die ihren Körper extrem verwinden, zum Beispiel mit den Füßen den Kopf berühren, einen menschlichen Knoten oder einen Überspagat bilden können. Das alles geschieht harmonisch und ästhetisch. Genauso fühlen sich die musikalischen Wagnisse des Werksorchesters zwischen Reggae, Klassik, Rock, Avantgarde, Jazz und allem möglichen anderen an. Und stets eben diese Geräusche, die in den Werkhallen, an den Pressen und anderen Maschinen aufgenommen wurden, ganz zu schweigen vom Original-Teile-Schlagzeug mit der Tiguan-Motorhaube als Steeldrum. Die klingt, wie sie klingt, unbeschreiblich …
Und was soll ich sagen, genau solch ein Schlangenmensch, nämlich der Volkswagen-Auszubildende Efekan Kar begleitet das Orchester seit Neuestem live. Sehnen, Faszien und Bänder scheint es in seinen Gelenken nicht zu geben.
Samples und Sound aus der Motorhaube
Wolfram der Spyra (Klangkünstler) spielt die Samples ein und Olaf Pyras (Musik-Lehrender/Uni Kassel) bedient unter anderem das Autoteileschlagzeug. Detlef Landeck ist bekannter Jazzmusiker und war schon mit Peter Maffay unterwegs. Er ist das Hirn des Orchesters, dirigiert, spielt Posaune und erzählt, was man über Programm und Musik so erzählen kann. Dabei ist nur eines gewiss: „Wir wissen auch nicht so genau, was wir spielen …“ Die Stücke heißen auch mal einfach A, B oder C und irgendwas passiert dann immer.
Bis auf 3 kommen alle Musiker aus dem Werk Baunatal. Die klassische Hierarchie aus dem Werk löst sich auf der Bühne auf, vom Azubi bis zum ehemaligen Getriebebauleiter spielen alle miteinander und nebeneinander. VW sponsort und hat auch das Museum schon unterstützt. „Willkommen zur Spätschicht!“
In Borken: Steigerlied für den Bergbau und Transformation für den Ex-Chef
Für Borken wird das Steigerlied gleich zu Beginn intoniert. In der ehemaligen Bergbaustadt wird selbstverständlich auch ein Stück für den ehemaligen Werksleiter Prof. Dr Becker (aus Borken) gespielt: Transformation 4: Von den Benzinern mit einem einzigen Harmoniewechsel zu den Elektroautos. Der frühere Chef ist leider nicht da, aber vielleicht hat er den Reggae-Rhythmus über den Borkener See hinweg gehört und mit den Füßen gewippt.
Detlef Landeck erzählt, dass in der Elektrohalle nur ein Ssssst aufgenommen werden konnte. Dafür haut Olaf Pyras zwischendurch mächtig auf die Mittelkonsole. Irgendwas geht immer! Es wie von der Spätschicht im Werk mitten in den Osterurlaub, wenn Bass und Bass-Drum-Pad, der 5/4-Takt und Scratch-Klänge aus dem Presswerk plötzlich vom Fingerpicking auf der Bouzouki abgeräumt werden. Die wird von Dionysios Karachalios meisterhaft gespielt. Der Sirtaki kommt dann folgerichtig. Spannend wird’s, wenn die griechische Bouzouki und die türkische Saz, gespielt von Ulas Dursun, harmonisch zusammenklingen.
Gerne verkündet Jens Dembowski, Profimusiker auf dem Saxofon und einst auf Tour mit Extrabreit, eine politische Botschaft: „Kein Platz für Ausgrenzung!“ Im Werk und in der Musik kein Thema!
What A Wonderful World
Detlef Landeck erzählt Geschichten. Zum Beispiel wie das Orchester kunstmäßig vor dem Fridericianum während der der documenta gespielt hat: „Gott sei Dank ist es keinem aufgefallen, was das wirklich ist.“ Wenn Tuba, Zugposaune und Saxofon dann noch – wie ein beschleunigender Formel V Motor Klingen – kommt ihm in den Sinn: „Elektroautos hört man nicht. Jetzt überlegen die, welchen Sound man denen geben könnte …“
Pablo Casals „Gesang der Vögel“, die heimliche katalanische Nationalhymne, wird abgelöst von „Paulaner“. Das animiert zum Schenkelklopfen. „Flieger grüß mir die Sonne „von Extrabreit gehört dazu, wenn Jens Dembowski schon mal mit Ihnen auf Tour war. Smoke On The Water folgt mit dem Thema aus dem Saxofon. Eine Zugabe gab’s auch: Ein Titel aus der Apartheid-Zeit Lied gegen den Hass und geschrieben für Louis Armstrong. Es gibt sicher viele Gründe, dass Volkswagen Soundorchestra nicht zu hören, aber nur einen einzigen, es zu tun: Ihre Konzerte sind unvergessliche Erlebnisse! (Rainer Sander)