Vortrag von Dr. Mahei Li im Schwälmer Museum
SCHWALMSTADT. Sympathisch, sprachgewandt und modelperfekt faltenfrei begrüßt Ernestine lächelnd 60 Gäste des „Schwälmer Stammtisch“. Der Gewerbe- und Tourismusverein G.u.T. Hatte gestern Abend ins Kunstkabinett des Schwälmer Museums eingeladen. Das Stammtischthema: Künstliche Intelligenz (KI), speziell ChatGPT und Dr. Mahei Li hat Ernestine dafür erschaffen.
Der Referent ist Wissenschaftler der Uni Kassel und streng genommen hat er genau das allerdings nicht getan. Ernestine hat sich selbst kreiert nach Vorgaben des studierten Wirtschaftsinformatikers, der beruflich an der Schnittstelle zwischen IT und Wirtschaftswissenschaft arbeitet. Ernestine ist durch und durch synthetisch, und doch wirkt sie zugleich faszinierend und erschreckend real, bewegt sich so, als habe sie Empfindungen, unterstützt das, was sie sagt mit Gesten und Bewegungen. Wäre sie nicht kosmetisch fehlerfrei bearbeitet, würde niemandem auffallen, dass sie nicht echt ist.
Enkeltrick 2.0 oder Verbrechensbekämpfung?
Das wiederum lag in den Händen von Dr. Mahei Li. Es geht auch ein Gesicht mit Runzeln und Pickeln. Generative Künstliche Intelligenz, die bereits für (fast) alles und jeden verfügbar sowie oft kostenlos ist, kann im Grunde jede Stimme imitieren und wie jeder x-beliebige Mensch aussehen. So erklärt beispielsweise in einem Fake-Video Selenski die Kapitulation der Ukraine, in einem anderen wird Donald Trump verhaftet und für Enkeltrick-Betrüger ergibt sich mit Version 2.0 das nahezu perfekte Verbrechen. Per Videocall ruft nun tatsächlich der Enkel an, sieht genauso aus wie der echte, hat die gleiche Stimme, selbst die Ticks sind die gleichen. Da fällt es Oma doppelt schwer, die Tausender nicht sofort zu überweisen.
Das ist die eine Seite und sie ist gruselig faszinierend. KI kann allerdings auch aus Kontextinformationen alles lokalisieren, was Fluch und Segen zugleich sein kann. Sie kann aber auch für blinde Menschen sehen, behinderte Menschen begleiten und kranke Menschen unterstützen. Schließlich werden Influencern ganz neue Möglichkeiten erschlossen. Auch wer sich nicht vor die Kamera traut, hat jetzt die Chance, ein YouTube-Star zu werden.
Es wird nicht ohne Regeln gehen
ChatGPT ist das neue Normal, sagt Dr. Mahei Lee. Dabei waren die Entwickler von ChatGPT, das seit einem Jahr fertig programmiert und seit November frei verfügbar ist, selbst überrascht, wie schnell sich ihre Intelligenz weiterentwickelt. Am 22. Mai haben sie zunächst die Bremse gezogen, weil es sich zu schnell entwickelt. Die Frage kommt auf, wer was kontrollieren und begrenzen muss.
Die sogenannte Normale KI kennen wir bereits aus vielen Anwendungen. Die generative KI ist neu und sie lernt selbst. Definitiv ist generative KI in vielen Bereichen besser als der Mensch. Zum Beispiel bei Handschrift-, Bild- und Spracherkennung oder beim Leseverständnis.
Daten sind das neue Gold vom Mietvertrag bis zur Atombombe
Der Datenbedarf von KI ist enorm. Je mehr Daten ChatGPT zur Verfügung hat, desto mehr wird es leisten. Benutzt werden zurzeit alle Daten bis zum Jahr 2021. In der Anwendung sucht das Programm nicht nach Wahrheiten, liefert weder Belege noch Quellenangaben. Auf Basis von Wahrscheinlichkeiten, erklärt der Wissenschaftler Dr. Li, sucht das Programm immer die nächstwahrscheinliche Lösung. Je größer die Basis, desto genauer das Ergebnis. Als Beispiel benutzt er anschaulich den Satz „Der Apfel fällt nicht weit vom …“ Auch ohne vollständigen Satz wissen wir, das fehlende Wort heißt Stamm. Vielleicht aber würden auch die Worte „der Apfel fällt …“ ausreichen, um aufgrund der im Gehirn abgespeicherten Daten zu vervollständigen.
Schließlich wird es praktisch. Schreibe einen Mietvertrag, den ich jederzeit kündigen kann. ChatGPT tut‘s. Die Frage, ob solch ein Mietvertrag rechtlich möglich ist, kann die Software nicht entscheiden. Immerhin kann ChatGPT Texte und Gesetze, die schwer zu verstehen sind, verständlich machen. „Erkläre für ein Kind“ könnte ein Prompt, also die Frage an die Software lauten. Sie wird es tun. Denkt man solche Dinge zu Ende, dann könnte ChatGPT auch eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zum Bau einer Atombombe liefern, denn, so Dr. Li, alle Daten dafür sind im Internet vorhanden. Das lassen die Entwickler von OpenAI, dem nicht kommerziellen Hersteller von ChatGPT nicht zu. Das Programm wird nicht das Einzige bleiben und vielleicht werden nicht alle so kontrolliert und begrenzt wie dieses. Auch damit wird die Menschheit umgehen müssen. Es wäre gefährlich, wenn jemals das ungefilterte Internet für Künstliche Intelligenz zur Verfügung stehen würde.
Was ist echt, was ist künstlich?
Parallel zur Frage aus dem Publikum, ob die Menschheit damit verblödet und was passiert, wenn eines Tages mehr künstlich generierte Daten als reale Daten vorhanden sind und KI nur noch von KI lernen kann, wird klar, dass KI selbstständig lernt, Gefühle zu erkennen, beispielsweise wenn wir die Stimme heben oder senken oder emotional gesteuerte Bewegungen erzeugen.
Script und Storylines lassen sich erstellen, ChatGPT kann komponieren, Texte schreiben und Musik im Stil eines jeden bekannten Musikers produzieren. Was ist echt, was ist künstlich? Ist alles echt? Ist alles künstlich? ChatGPT erkennt Bilder, generiert aber auch Bilder. Dr. Li lässt einen Astronauten Foto realistisch auf einem Pferd „zeichnen“.
Digitales Schwalmstadt
Wie nah das Ganze kommen kann, zeigt der Hochschullehrer, der auch aktuell Firmen wie B.Braun in Melsungen und zuvor das Volkswagenwerk beraten hat, hautnah mit Fragen zu Schwalmstadt. Bei welchen Firmen kann sich ein IT-Fachmann in der Stadt bewerben? ChatGPT listet sie auf. Es schreibt sogar Stellenausschreibungen und Bewerbungen. Und schließlich kommt die Frage nach dem digitalen Rathaus. Ein ChatBot, in kürzester Zeit erstellt, lässt die Stadtverwaltung Fragen zur Wasserversorgung beantworten. Deutlich schneller als das kommunale Rechenzentrum aller Kommunen, EKOM 21, bisher auch nur gedacht hat.
Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt
Apropos Software: ChatGPT kann Programme schreiben und nicht nur das. Man muss nicht programmieren können, um sich vom Programm dann auch erklären zu lassen, wie sich der generierte Code benutzen und implementieren lässt. Grenzen? Es wird keine mehr geben. Die einzige Limitierung ist die Sprache.
Wer wenig strukturiert ist, kann ChatGPT durchaus auffordern: „Plane mir den Tag“ und dafür die wichtigsten Aufgaben nennen. Der Tag bekommt Struktur.
Demokratisch? Urheberrecht?
Demokratisch sind die Lösungen nicht immer, schließlich nutzt ChatGPT allerdings nur Daten, die von Menschen kommen. Was aber ist mit den produzierten Daten? Die Frage des Urheberrechts ist nicht gelöst. Gleiche Anfragen produzieren gleiche Ergebnisse. Wer hat Anspruch auf das Copyright. Was passiert, wenn ChatGPT Texte generiert, die anderweitig bereits geschützt sind oder Bilder verwendet, die einen Urheber haben?
Für Unternehmen aller Art ist klar, ChatGPT kann unterstützen bei Marketing, Vertrieb, Logistik, Risikobewertung, Recht, Fortbildung, Lehre, Operation Engineering und vielen anderen Bereichen. Die Qualität der Antwort wird immer von der Qualität der sogenannten Prompts abhängen. Auf die Frage kommt es an! Trotzdem muss der Anwender bereit sein, die Verantwortung für Ungenauigkeit zu übernehmen …
Schwärmer Stracke bleibt eine analoge Erfahrung
G.u.T Vorstandsmitglied Heiko Lorenz hatte Dr. Mahei Li begrüßt und den Abend humorvoll moderiert, nicht ohne darauf hinzuweisen, welche geschichtliche Bedeutung Schwalmstadt als Konfirmationsstadt hat und dass die Schwälmer Stracke besser ist als die Kasseler Ahle Wurscht. Das bleibt auch zukünftig eine analoge Erfahrung. Landgraf Philipp ließ sich allerdings entschuldigen, ihn vertraten die Landgräfinnen bei der Bewirtung. Unter den Gästen war auch Baunatals Manager Dirk Wuschko, der den Referenten für die Volkswagen statt verpflichtete. Für Einzelhandel und Gewerbe ergeben sich an jedem Ort die gleichen Chancen und Risiken durch die künstliche Intelligenz. (Rainer Sander)