FRIELENDORF | SCHWALMSTADT. Politiker und Journalisten sprechen immer wieder von Überhang- und Ausgleichsmandaten, aber niemand erklärt, was das ist. So wie es erzählt wird, entsteht auch eher das Gefühl, dass es sich um eine versteckte Mogelei handelt, um die Anzahl der Volksvertreter zu erhöhen und die Bundesbürger mit überflüssigen Ausgaben zu belasten. Tatsächlich: Wenn etwas überhängt, muss es ausgeglichen werden. Hä? Ganz einfach:
Rechnen wir mal mit 100 Wahlkreisen, weil das leichter ist. Pro 100 Wahlkreise kommen 2 x 100 Abgeordnete in den Bundestag. 100 werden verteilt nach dem Wahlergebnis. Bekommt eine Partei 30 Prozent, sind das auch 30 Abgeordnete, bei 20 Prozent, also 20 Parlamentarier und so weiter. Wer unter 5 Prozent der Stimmen bleibt, muss leider draußen bleiben, es sei denn, die Partei gewinnt mit 3 Direktkandidaten mindestens die Mehrheit in 3 Wahlkreisen. Dann darf sie voll mitspielen. Schon dabei verschiebt sich das Verhältnis.
Was sind nun aber wieder Direktkandidaten? In jedem Wahlkreis kandidieren einzelne Kandidaten, die direkt gewählt werden können. Dabei kommt der Bewerber mit den meisten Stimmen auch in den Bundestag. Bisher jedenfalls. Also noch einmal 100 Sieger aus den Wahlkreisen. Bis hier ist alles klar. Das ergibt bei 299 Wahlkreisen – wenn alles normal läuft – 2 x 299 Bundestagsabgeordnete. Also 598 Volksvertreter. Das ist der Plan, der noch nie funktioniert hat …
Aktuell sind es sogar 736 Abgeordnete. Satte 138 mehr, die sich in Berlin auf den Füßen stehen, niemandem ist dabei langweilig, alle haben zu tun und alle brauchen ein Büro und wollen Geld. Wie kommt das?
Es treten immer mehr Parteien an, die an den 5 Prozent scheitern. Aber auch immer mehr ziehen trotz dieser Hürde in die Parlamente ein. Gäbe es nur 2 Parteien, hätte der Wahlkreissieger logischer Weise immer mehr als 50 Prozent der Stimmen und damit wären immer genauso viele Direktkandidaten gewählt, wie auch die Partei Stimmen bekommt. Das wäre stinklangweilig und das hatten wir auch noch nie.
Im Bundestag sind mit der CSU 7 Parteien. Man kann also durchaus mit 30 oder gar 25 Prozent einen Wahlkreis gewinnen. Und da beginnen die Probleme. Beispiel: Eine Partei bekommt 30 Prozent der Stimmen. Das wären demnach 2 x 30, also 60 Abgeordnete. Wenn sie jetzt aber 70 Wahlkreise mit ihren Direktkandidaten gewinnt, sind das schon 70 statt 60. Das sind 10 sogenannte Überhangmandate. Und weil die anderen Parteien deshalb nicht weniger Abgeordnete im Bundestag bekommen dürfen, als ihnen nach ihrem Wahlergebnis im Verhältnis zustehen, wird die gleiche Anzahl, also noch einmal 10, nach dem jeweiligen Wahlergebnis auf diese verteilt. Das sind die sogenannten Ausgleichsmandate.
Bei Lichte betrachtet, lässt sich das nicht verhindern. Wir wählen halt so …
Im Grunde gibt es nur zwei Möglichkeiten:
- Die Realität der mathematischen Arithmetik anerkennen, und die Anzahl der Wahlkreise verringern, damit das Ganze nicht mehr ausufert.
- Die Direktmandate abschaffen und nur noch so viele von den Listen in den Bundestag lassen, wie nach dem Wahlergebnis zustehen. Das Risiko dabei: Es könnte Wahlkreise geben, die dann gar nicht mehr vertreten sind.
Die Ampel hat sich weder das eine noch das andere zu tun getraut. Sie hat mit sich selbst einen Kompromiss geschlossen. Ein Kompromiss ist immer dann, wenn alle Seiten gleichermaßen unzufrieden sind. Das hat funktioniert!
Es bleibt bei den Wahlkreisen, aber die Anzahl der Mandate gemäß der prozentualen Verteilung wird abgesenkt. Das heißt, wer einen Wahlkreis gewinnt, bekommt nicht immer auch die Goldmedaille und zieht automatisch in den Bundestag ein. Steht er nicht zusätzlich auch auf der Liste ganz oben, muss der eine oder die andere zukünftig trotz Sieg im Wahlkreis draußen bleiben.
Das Problem ist, dass CDU und vor allem CSU in Deutschland überdurchschnittlich viele Wahlkreise gewinnen und deren Wählerinnen und Wähler damit für den aufgeblähten Bundestag sorgen. Nicht die Parteien! Das entsteht ausschließlich aus unserem Wählerverhalten. Natürlich machen Sie und ich das nicht absichtlich, aber – ich wiederhole mich – wir wählen halt so.
Die erfolgreichen Parteien müssten jetzt konsequent ihre Wähler bitten, zwar die Partei zu wählen, aber als Direktkandidaten solche von anderen Parteien … Das wäre im Ergebnis ironischerweise dann das Gleiche.
Ich wage zu bezweifeln, dass es eine kluge Entscheidung ist, das Problem so zu regeln, dass die Konsequenzen zu nahezu 100 Prozent die aktuelle Opposition treffen. Deren Wählerstimmen für die Direktkandidaten werden jetzt im schlimmsten Falle komplett wertlos. Heißt: „Liebe Wählerinnen und Wähler, die Erststimme brauchen Sie nicht mehr abgeben, die ist quasi nunmehr obsolet!“ Erfolg wird bestraft! Ist das die Botschaft?
Ich weiß nicht, ob das in voller Breite Freude und Begeisterung auslöst. Das Abschaffen der zweiten beziehungsweise ersten Stimme wäre ehrlicher gewesen. Die Verringerung der Wahlkreise wäre wählerfreundlicher gewesen. Ich ahne, dass das ein weiteres Signal dafür ist, gar nicht erst wählen zu gehen, denn die Hälfte der Stimmen ist im Grunde kaum noch etwas Wert. Lottostimmen? Aber irgendjemand gibt diese Stimmen ja ab. Das sorgt doch für Verdruss, oder was glaubt jemand, der so entscheidet … ? Das klingt ein wenig nach „Ätsch, was wählt ihr auch so doof!“
Und gleichzeitig der LINKEN noch einen mitgeben, indem die 3-Wahlkreise-Regel abgeschafft wird, entbehrt nicht eines gewissen Zynismus. Bisher konnten damit auch parteilose Kandidaten in den Bundestag einziehen. Zumindest theoretisch.
Ihr
Rainer Sander