Wie barrierefrei und inklusiv ist die Stadt?
BAUNATAL. Sabrina Scharf hat vor drei Jahren die Diagnose bekommen: MS! Multiple Sklerose ist kein Spaß. Jürgen Klahold vom Förderverein Kasseler MS Kranker bezeichnete sie am Samstag als Krankheit der 1000 Gesichter. Die neurologische Erkrankung zeigt sich immer anders, zwingt irgendwann fast immer in den Rollstuhl, aber selbst der Sehnerv kann betroffen sein.
Frau Scharf ist vielseitig engagiert, spielt im Musikzug der Eintracht Baunatal, wirkt dort im Vorstand mit und ist politisch engagiert. Sie weiß, dass sie eines Tages dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen sein kann, aber sie weiß dank der dmsg (Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft), dass viel Sport und Bewegung den Krankheitsfortschritt aufhalten können. Das gilt auch dann, wenn Betroffene schon im Rollstuhl sitzen.
Seit 17 Jahren werden in Baunatal Bordsteine abgesenkt
Wie aber kommt man behindert und mit Rollstuhl durch eine Stadt? In Baunatal ist das relativ einfach. In den vergangenen 17 Jahren wurden bereits bei rund 300 Bordsteine komplett abgesenkt und mit Markierungen für sehbehinderte Menschen versehen. Bei neuen Straßen sieht die Bauleitplanung eine automatische Absenkung vor. Wo barrierefrei ausgebaut werden sollten, wird jedes Jahr in einem gemeinsamen Gespräch zwischen Stadtverwaltung, Behindertenbeirat, Seniorenarbeitskreis und dem Radwegebeauftragten festgelegt. Dennoch ist eine Rollstuhlfahrt auch in Hessens vermutlich barrierefreiester Stadt nicht an jeder Stelle leicht und ohne Hilfe möglich.
Von Frau Scharf ging die Initiative aus, sich die Stadt aus Rollstuhlperspektive anzusehen, Bürgermeisterin Manuela Strube einzubeziehen und Rollstuhltraining in Baunatal anzubieten. Am Samstag trafen sich Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer mit Fußgängern, um gemeinsam zu testen. Für Fußgänger, die dabei authentisch ausprobieren wollten, wie sich der Rolli anfühlt, konnten einen solchen ausleihen und bekamen von Holger Kranz eine kurze Einweisung. Immer leicht nach vorne gebeugt, immer nur das Metall anfassen und bergab leicht zurückgelehnt …
dmsg begleitet von der Diagnose an
Benno Rehn, Geschäftsführer dmsg Hessen, erzählte in der einführenden Pressekonferenz, dass die Organisationen, die Menschen ab der Diagnose begleitet, im Gegensatz zu Angeboten der Pharmaindustrie ohne Eigeninteresse handelt und ausschließlich von Spenden und Mitgliedsbeiträgen lebt. 10 Prozent der Menschen in Deutschland sind MS erkrankt und viele davon entwickeln Symptome. Nur Bewegung und Sport sind neben der Ernährung und dem Stressmanagement in der Lage, Behinderungen zu verhindern.
Während Corona hat die dmsg ein digitales Funktionstrainingssystem entwickelt und online gestellt. Nach Corona wurde es über Nacht eingestellt. Dabei, so Rehn, können viele Behinderte und Berufstätige können gar nicht am Offlinetraining teilnehmen. Aktiv sein ist für Menschen mit MS-Erkrankung essenziell. Corona habe uns viel gelehrt und nicht nur Negatives! Inzwischen konnten die Krankenkassen überzeugt werden, das Funktionstraining wieder online zu stellen.
Manuela Strube erkennt noch Luft nach oben
Bürgermeisterin Manuela Strube, die selbst mit dem Rollstuhl die gesamte Strecke von der bdks über den Marktplatz und zurück mit vor, lobte das Engagement von Frau Scharf. Sie ist als Betroffene noch mobil. In Baunatal, so Strube, lebt der Inklusionsgedanke, aber es ist noch Luft nach oben, weil man am Bewusstsein arbeiten kann. Sie ist sicher, dass die Special Olympics in Baunatal dabei helfen werden.
Sabrina Scharf selbst dankte Stadtverordnetenvorsteher Reiner Heine und erzählt, dass sie Kontakte geknüpft hat zur „Lego-Oma“ Rita Ebel. Sie baut bunte Rolli-Rampen aus Legosteinen. Diese sind kein anerkanntes Hilfsmittel, funktionieren aber hervorragend!
Sonja Waschiloski, bei der dmsg zuständig für die Sozialberatung in Nordhessen, organisiert auch Touren, so auch die Aktion in Baunatal. Der erste Aktionstag in Nordhessen fand letztes Jahr in Bad Wildungen statt.
Funktionstraining auf sportwissenschaftlicher Basis online und offline
Sportwissenschaftlerin Dr. Stephanie Woschek hat das Funktionstraining entwickelt, und zwar in Form von wöchentlichen Trainings in Gemeinschaft auf Rezept. 2019, sagt sie, sind die Teilnehmerzahlen durch die Decke gegangen. Schnell wurden Gruppen aufgebaut und dann kam Corona. Mit dem Online-Angebot wurde absolute Flexibilität erreicht. Die Technik ist die einzige Barriere. Dabei steht nicht die Krankheit im Mittelpunkt. Mit entsprechender Technik können alle auf Augenhöhe trainieren. Die ausgebildeten Funktionstrainer haben immer einen beruflichen Hintergrund als Physiotherapeuten, Sportlehrer oder Ähnliches.
Lars Dirksen vom Sanitätshaus der bdks-Gruppe, „Saniplus“ in Fritzlar findet es wichtig, den Rollstuhl erst einmal in Alltagssituationen kennenzulernen. Baunatal sei Vorreiter. Viele Städte hätten nicht einmal Behindertenbeauftragte. Heinz Kaiser ist Inklusionsbeauftragter in Baunatal und kennt alle Problembereiche.
Problem mit dem Kopfsteinpflaster auf dem Marktplatz
Unterwegs fanden sich Frau Strube und Herr Heine schnell mit dem neuen Gerät zu Recht. Trotzdem kam gelegentlich die Bordsteinkante gefährlich nah und bei unterschiedlichen Bodenbelägen ist es nicht immer einfach, das Gefährt zu bewegen. Insbesondere der Marktplatz ist mit seinem groben Kopfsteinpflaster eine echte Herausforderung. Dieser soll noch in diesem Jahr umgestaltet werden. Interessant ist auch zu beobachten, wie andere Verkehrsteilnehmer und Fußgänger reagieren. Holger Kranz gab immer wieder Tipps und führt die Gruppe. Heinz Kaiser konnte alle neuralgischen Punkte zeigen und wusste, worauf man im Rollstuhl achten muss. Die Schwierigkeiten liegen meist nicht bei der Stadt, sondern bei Geschäften und Institutionen, in denen es bautechnisch nicht möglich ist, barrierefrei Zugänge zu schaffen.
Ob bergauf oder bergab, ob an belebten Straßen oder in engen Durchgängen, für die Neulinge auf den Rollstuhl ist das Verständnis für behinderte Menschen deutlich gewachsen. (rs)
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