Agaplesion Diakonie Kliniken Kassel neuer Investor?
BAUNATAL. Insolvenzverfahren laufen immer anders als geplant, hat nh24 geschrieben. Eine echte Kehrtwendung nimmt das vorläufige Verfahren für das insolvente Gertrudenstift heute. Der Vorstand des insolventen Ev.-Luth. Gertrudenstift e. V., der untrennbar mit der Evangelischen Freikirche SELK verbunden ist, hat überraschend angekündigt, seinen Insolvenzantrag zurückzunehmen.
Damit will der Verein am offiziellen Investorenprozess vorbei einen eigenen Investor präsentieren, der seine Schulden übernimmt. Nach Informationen, die nh24 aus dem Kreis der Beteiligten vorliegen ist das die „Agaplesion Diakonie Kliniken Kassel gGmbH“. Diese betreibt neben den Kliniken bereits das Pflegeheim Haus Salem in der Herkulesstraße in Kassel. Die Agaplesion-Gesellschafterin Stiftung Kurhessisches Diakonissenhaus Kassel betreibt unter anderem Betreutes Wohnen, Kindertagestätten sowie Jugendhilfeeinrichtungen und ist an den Kasseler Diakoniestationen mit 10 Prozent beteiligt.
Phase F soll offensichtlich nicht gerettet werden
Die insolvente Gertrudenstift Pflege gGmbH, die die Phase F-Einrichtung betreibt, ist offenbar nicht von der geplanten Investorenlösung umfasst, schreibt Insolvenzverwalter Dr. Steffen Koch in einer Pressemitteilung und sagt weiter: „Die Rücknahme eines Insolvenzantrags durch den Antragsteller ist sehr ungewöhnlich, aber rechtlich möglich.“ Koch hatte heute die Beschäftigten auf seit längerem geplanten Mitarbeiterversammlungen über den Stand des Verfahrens sowie über die neue Situation informiert. „Wenn diese Lösung zum selben Ergebnis führt, nämlich dass alle Arbeitsplätze erhalten bleiben und die Gläubiger zu 100 Prozent befriedigt werden, kann ich das als deren Interessenvertreter aber natürlich nur begrüßen“, so der vorläufige Insolvenzverwalter.
Voraussetzung sei, so Koch, dass der Verein einen Geldgeber gefunden hat, der bereit ist, die notwendigen Mittel zur Abwendung einer Insolvenz bereitzustellen. Dies umfasst sowohl sämtliche Alt-Verbindlichkeiten als auch das Insolvenzgeld, das im Zuge der Fortführung im vorläufigen Insolvenzverfahren bereits an die Beschäftigten ausgezahlt worden ist. Das heißt, auch die Bundesanstalt für Arbeit bekommt ihr Geld zurück.
100-Prozent-Quote und Gesamtlösung waren in Sichtweite
Das Insolvenzgeld war letztlich ein ganz wesentlicher Faktor, um ab Februar überhaupt eine Fortführung der beiden zahlungsunfähigen Einrichtungen sicherzustellen. Koch hatte unter anderem mit Hilfe dieses Instruments im vorläufigen Insolvenzverfahren den Betrieb aufrechterhalten und, wie in solchen Fällen üblich, einen Investorenprozess gestartet. Dabei wird im Wege eines strukturierten und für jeden offenen Verfahrens das bestmögliche Übernahme-Konzept ermittelt. Ziel des Investorenprozesses war und ist eine Gesamtlösung für alle Gesellschaften der Gruppe und deren Einrichtungen.
Derzeit liegen Koch mehrere Angebote von erfahrenen Betreibern vor, überwiegend mit kirchlichem oder frei-gemeinnützigem Hintergrund. Alle Bieter wollen das Gertrudenstift kurzfristig als Gesamtpaket übernehmen, also inklusive sämtlicher insolventer und nicht insolventer Einrichtungen sowie unter Erhalt aller Arbeitsplätze. Der vorläufige Gläubigerausschuss, dem neben den wichtigsten Gläubigern auch Vertreter der Kirche und der Arbeitnehmer angehören, unterstützt einstimmig die angestrebte Gesamtlösung und hat den vorläufigen Insolvenzverwalter beauftragt, die Endverhandlungen mit den Bietern zügig abzuschließen. Aufgrund der Höhe der vorliegenden Angebote ist davon auszugehen, dass dadurch nicht nur eine 100-prozentige Befriedigung der Gläubiger erreicht werden kann, sondern darüber hinaus sogar eine Ausschüttung an den Trägerverein möglich ist.
Phase F und Tagespflege verhungern jetzt am ausgestreckten Arm der Kirche?
Die nun vom Vereins-Vorstand in Eigenregie angestrebte Lösung umfasst hingegen nicht alle Einrichtungen der Gruppe. Zur Gruppe gehört neben den beiden insolventen Gesellschaften auch die nicht insolvente Gertrudenstift Betreuung gGmbH, die zwei Kitas und eine Tagespflege-Einrichtung betreibt. Nach den Plänen des Vereins sollen nur das Pflegeheim des Ev.-Luth. Gertrudenstift e.V. sowie die beiden Kitas an den Investor übertragen werden. Eine Übernahme der Tagespflege-Einrichtung ist nicht geplant.
Allerdings müssen die beiden Kommunen Baunatal und Guxhagen bei einem Besitzerwechsel noch erklären, ob sie einen neuen Träger überhaupt akzeptieren wollen.
Auch soll die Gertrudenstift Pflege gGmbH (Betreiberin der Phase F) in der Insolvenz verbleiben. Koch wies darauf hin, dass damit eine Investorenlösung für diese Gesellschaft kaum möglich wäre, zumal die Immobilie dem Verein gehört. „Ein eigenständiges Angebot nur für den Betrieb der Gertrudenstift Pflege gGmbH, also nicht als Teil eines Gesamtpakets, liegt derzeit nicht auf dem Tisch“, so der vorläufige Insolvenzverwalter. Inzwischen haben nahezu alle Bewohner der Phase F eine Anschlussversorgung gefunden und ziehen in den nächsten Wochen um. In Abstimmung mit der Heimaufsicht konnte Koch erreichen, dass die Betreuung der verbliebenen Bewohner bis Ende April gesichert ist.
Vor Gottes Angesicht…
Nicht nur nh24 hatte sich in den vergangenen Wochen über das Vorgehen in der vorläufigen Insolvenzphase gewundert. Was jetzt passiert, ist aus diesem Blickwinkel noch weit verwunderlicher, weil es eine Gesamtlösung verhindern würde. Stattdessen würden die Phase F samt Tagespflege, einschließlich der Menschen, für die diese Pflegeangebote existenziell sind, wie man schön sagt „über die Klinge springen“, wenn Diakonie-Kliniken und Freikirche das unwirtschaftlichste Anhängsel jetzt ganz bewusst nicht retten und endgültig „in die Pleite schicken“ würden. Vor Gottes Angesicht und auf Gottes Boden dürfte es menschlichere Wege geben. (Rainer Sander)