Lesung von Dmitrij Kapitelman im Rathaus Baunatal
BAUNATAL. Dmitrij Kapitelman hat sein Buch „Eine Formalie in Kiew“, das die Geschichte und Geschichten von der Einbürgerung als Ukrainer in der Bundesrepublik erzählt, schon vor über einem Jahr veröffentlicht. Dass selbst die Leitmedien bis zu 3 Monate gebraucht haben, es zu rezensieren – also öffentlich wahrzunehmen – sagt etwas über den damaligen Stellenwert.
Seit dem 24. Februar hat sich das schlagartig geändert. Die Geschichte könnte sich so zurzeit nicht mehr wiederholen. Man könnte aktuell beispielsweise nicht mehr nach Kiew fahren, um eine beglaubigte Geburtsurkunde zu besorgen. Das musste der Autor nämlich tun, damit er einen deutschen Pass bekommen konnte.
Witz bedeutet Geistesschärfe und ist nicht respektlos
Die Stadt Baunatal mit ihrer Stadtbücherei, die Volkshochschule Region Kassel und die Buchhandlung Nilsson in Baunatal hatten Dmitrij Kapitelman zum Vorlesen und die Baunataler zum Zuhören eingeladen. Der Stadtverordnetensaal, den die Stadtverordneten seit Corona nicht mehr nutzen, war gut gefüllt und Stadtrat Dr. Klaus-Peter Lorenz begrüßte die Veranstalter, den Autor und die Zuhörer, indem er sich zunächst auf den ukrainisch-jüdischen Humor von Herrn Kapitelman einließ: „früher war Witz gleichbedeutend mit Geistesschärfe.
Das Buch verbindet nicht nur Humor mit wachem Verstand, sondern auch die westliche Demokratie und den östlichen Aufbruch dorthin oder die Vergangenheit mit der Gegenwart. Es verbindet sogar in Zeiten des Krieges, obwohl es dafür nicht geschrieben ist – wenngleich der Krieg auf der Krim und im Donbass schon zu dieser Zeit zur Tagesordnung gehörte.
Bloß nicht auf Gullideckel treten
Dr. Lorenz erzählt, dass Dmitrij Kapitelman 1986 im sowjetischen Kiew geboren wurde, also in dem Jahr, in dem Tschernobyl passiert ist. 1994, als die Ukraine als unabhängig anerkannt wurde, kam er als jüdischer Kontingentflüchtling nach Leipzig. Kurzzeitig ist die Familie nach Israel gezogen und jetzt lebt und arbeitet er als Journalist in der Bundesrepublik. Nach mehr als 30 Jahren denkt und spricht man deutsch. Die wichtigste Erinnerung an Kiew lag auf der Straße. Mutter hatte ihn immer vor dem Betreten der Gullideckel gewarnt. Die könnten auch mal durch krachen, und dann…
Er selbst hatte sich stets gefragt, „warum ist am Ende eine Amtszeit jeder Präsident steinreich?“ Und als er entschied Deutscher zu werden, die Geburtsurkunde zu holen, obwohl unübersehbar ist, dass er geboren wurde, blieb die Frage, „wen und wie hoch muss man in Kiew bestechen, um deutscher zu werden“? Liebevoll schildert er die deutsche Standesbeamtin, Frau Kunze in Leipzig, die sächsisch spricht und ihr Pendant in Kiew. Die Frage danach, wie man korrekt korrupt ist, bleibt also unbeantwortet, dafür die Frage, wie lange man in der Ukraine auf die Erledigung eines Verwaltungsvorganges warten muss, nicht: 2 bis 80 Tage!
Die Sandkastenspiele haben sich verändert
Genug Zeit, sich mit einem Sandkastenfreund zu treffen und festzustellen, dass die Nähe und die Verbundenheit noch da sind, die Lebenswirklichkeiten und Welten aber ganz anders geworden sind. Wie wird es unter dem Komiker Präsident? Sicherlich nicht schlechter werden! Die Nachrichten begannen zu dieser Zeit nicht mehr mit den Toten aus dem Donbass. Dafür beginnen sie heute mit den Toten außerhalb des Donbass.
Wie passt es, dieses Buch gerade jetzt zu lesen, während in Kiew und der Ukraine gekämpft wird? Der erwähnte Sandkastenfreund kämpft jetzt an der Front und es ist schwer ihn zu erreichen. Im Sandkasten der Generalsstäbe werden jetzt Panzer hin- und hergeschoben. Nee, nee, stellt Kapitelman fest, das Buch muss jetzt gelesen werden! Die Geschichte mit der Apostille, also dieser übergeordneten behördlichen Bestätigung einer behördlichen Bestätigung tritt in den Hintergrund. Das Buch erzählt von zwei Welten, die sich ähnlich sind und doch wieder nicht, während die Einen irgendwo schon sind, wo die Anderen erst hinwollen und stellt doch infrage, ob das, wo man ist und das, wo man hinwill, uneingeschränkt richtig und wichtig sind. Und nichts geschieht ohne familiären Kontext. Darin unterscheiden sich Familien in Deutschland und der Ukraine nicht.
Selbst einem Aggressor hätte man das nicht zugetraut…
Das Publikum hat viele Fragen, beispielsweise zum Anteil an Satire oder zur Rolle als Migrant und wie man sich als autobiografische Autor fühlt, wenn die Buchkritik dann immer auch die Familie trifft. Sein Resümee: es ist weder leicht über Bürokratie zu schreiben, noch über die Absurditäten der Gegenwart. Und die Realität überwindet auch krasse Gegensätze. So schickt die jüdische Gemeinde in der Ukraine zurzeit Thermo-Unterhosen an ein als rechtsgerichtet bekanntes Regiment im Kriegsgebiet. Wie er als Ukrainer über Putin denkt? Selbst einem Aggressor hätte man das nicht zugetraut! Obwohl er schon immer der Ukraine das Recht auf eine eigene Existenz abgesprochen hat.
Das Buch ist selbstverständlich im Buchhandel erhältlich und hilft zu verstehen, wie wichtig es ist, jetzt miteinander zu sprechen. Den Krieg kann es nicht erklären und auch nicht erträglicher machen. Vielleicht aber die Zeit überbrücken, bis das eines Tages nicht mehr im Vordergrund der aktuellen Geschichten steht. (Rainer Sander)