Angehörige, Übernahmeinteressent und Bürgermeisterin dazu
BAUNATAL | KASSEL. Nachdem der vorläufige Insolvenzverwalter des Gertrudenstift Baunatal, Dr. Steffen Koch, in einer Pressemitteilung die Schließung der Phase F (Junge Pflege) angekündigt hat, haben sich Angehörige der Pflegebedürftigen überrascht und fassungslos geäußert. Schließlich konnte nh24 ein Gespräch mit einer Pflegeorganisation führen, die auch die Phase F übernehmen würde.
Bereits lange vor der Insolvenz hat sich auch eine Angehörigengruppe organisiert. Wie uns Frau Badur aus dieser Gruppe erzählt, ist sie eher zufällig entstanden. Man sei bei Spaziergängen mit den Angehörigen anderer Pflegebedürftigen in Kontakt gekommen und habe dann schnell über auffällige Probleme im Gertrudenstift gesprochen. Tatsächlich habe man nie etwas gegen das Gertrudenstift unternehmen wollen. Viele Angehörige hatten sich aber gewundert, dass sie teilweise über Monate gar keine Rechnungen bekommen hatten. Eine Angehörige hat sich eine Rechnung selbst geschrieben, damit sie der Form entspricht. Selbst eine korrekte Form sei in den Monaten vor der Insolvenz vom Gertrudenstift nicht mehr zu erwarten gewesen. Angeblich, sagt eine Angehörige, wären sogar die Briefbögen ausgegangen.
Angehörige in großer Sorge – Keine Alternativen in der Region
Die Angehörigen haben erlebt, dass die Mitarbeiter scharenweise weggelaufen sind und dann die Pflege immer schlechter wurde. Von einem Kompressionsstrumpf, der ins Bein eingewachsen war, wurde berichtet. Am Ende haben auch Mitarbeiterinnen in der Angehörigengruppe mitgewirkt.
Dass die „Junge Pflege“ geschlossen wird, ist für viele Angehörige eine echte Katastrophe. Es gibt in der Region nicht ausreichend Plätze, um die Schließung aufzufangen. Eine Angehörige hat ein Angebot in Braunschweig für ihr pflegebedürftiges Familienmitglied. Sie müsste dazu selbst mit nach Niedersachsen ziehen. Nach Aussage der Angehörigen wollen 70 Prozent der Bewohner im Haus bleiben.
Ein Baunataler würde gerne in seiner Heimatstadt aktiv werden
Von den Angehörigen haben wir auch erfahren, dass das Pflegeunternehmen ascleon®Care, mit Sitz in Kassel und 15 Standorten von Fritzlar bis Lüneburg mit über 30 Einrichtungen und Diensten, Interesse bekundet hat, das gesamte Gertrudenstift einschließlich der Phase F zu übernehmen. Mit Übernahmen aus Insolvenzen hat man dort gute Erfahrungen gesammelt, denn bereits vier Einrichtungen wurden auf diese Weise in das Unternehmen eingegliedert.
Geschäftsführer Christoph Jaworski ist selbst in Baunatal aufgewachsen, kennt das Gertrudenstift als gute und vorbildliche Einrichtung aus der Vergangenheit und teilt auf Anfrage mit, dass er bei Insolvenzverwalter Dr. Koch sein Interesse schriftlich begründet hat und dieses auch bestätigt wurde. Man käme auf ihn zu, wurde zunächst mitgeteilt. Von der Schließung der Phase F-Pflege hat er letztlich durch nh24 erfahren.
Unterschiedliche Bewertungen von Wirtschaftlichkeit?
Ein Sprecher des vorläufigen Insolvenzverwalters erklärte heute dazu mit Nachdruck, „dass die Schließung der Phase F unumgänglich ist. Die Einrichtung hat bekanntlich massive strukturelle und wirtschaftliche Probleme, und wir können dort die Versorgung allenfalls bis zum 31. März sicherstellen. Aus diesem Grund mussten wir die Notbremse ziehen. Alles andere wäre gegenüber den Bewohnerinnen und Bewohnern verantwortungslos gewesen.“
Die Aussage, dass die „Junge Pflege“ defizitär sei, kann der ascleon®Care-Geschäftsführer hingegen nur auf Vergangenheit und Gegenwart beziehen. „Wir betreiben selbst Einrichtungen dieser Art, sagt Jaworski“ und geht davon aus, dass auch im Gertrudenstift wirtschaftlich gearbeitet werden kann. Sein Unternehmen hat gerade in Hofgeismar und Immenhausen Intensiv-Pflegeeinrichtungen aus Schieflagen übernommen, die jetzt bereits wirtschaftlich arbeiten und er betreibt selbst eine Phase F-Pflege mit 30 Plätzen. Eine Einrichtung für beatmete Kinder bis 18 wird ebenfalls betrieben.
Die Einrichtung im Gertrudenstift sei mit 33 Plätzen nicht sehr groß, dafür aber moderner und mit entsprechender Organisation im Unternehmensverbund ohne Verlust zu führen.
Bewohner müssen fern von ihren Angehörigen untergebracht werden
Dass es im Sinne der Bewohner und Angehörigen sein kann, die Phase F zu schließen, erschließt sich bei Analyse der Situation nur schwer. Jaworski kennt den Markt und weiß, dass in der Region nicht ausreichend Plätze für die Bewohner aus dem Gertrudenstift zur Verfügung stehen. Ihm liegen als Baunataler – der inzwischen in Norddeutschland lebt – die Bewohner und die Einrichtung an sich am Herzen. Die Bewohnerinnen und Bewohner, sagt er, kann man nicht im Stich lassen! Am liebsten würde er das gesamte Gertrudenstift übernehmen, würde aber auch allein die Phase F-Pflege sofort aus der Insolvenz herauslösen. Das hat die Insolvenzverwaltung heute eindeutig abgelehnt.
Kurze Zeit nach dem Gespräch mit Herrn Jaworski bekam nh24 eine E-Mail mit der Information, dass seitens des Insolvenzverwalters die Umwandlung in eine Kurzzeitpflege geplant ist. Diese würde schon allein nach den Leistungsentgelten auch nicht wesentlich zu einem wirtschaftlichen Erfolg der Gesamteinrichtung beitragen.
Wollen andere Investoren die Phase F nicht?
Danach stellt sich die Frage, ob die Tatsache, dass Schließung und Umwandlung in Kurzzeipflege geplant werden, obwohl mit ascleon®Care ein ernstzunehmender Bieter für das Gesamtprojekt oder auch nur den bisher nicht wirtschaftlichen Bereich vorhanden ist, darauf schließen lässt, dass bereits ein anderer Träger – wie der Insolvenzverwalter indirekt mitgeteilt hat – aus dem Bereich der Diakonie entweder eine Zusage erhalten oder die Schließung der Phase F-Pflege als Bedingung formuliert hat? Der Sprecher des Insolvenzverwalters widerspricht dieser These mit Vehemenz: „Unsinn!“
Er erklärt hingegen seine Vorstellungen vom weiteren Verfahren: Der vorläufige Insolvenzverwalter, so sein Sprecher Sebastian Glaser plant, die zukunftsfähigen Betriebsteile des insolventen Ev.-Luth. Gertrudenstift e.V. zu sanieren. Dafür sind prinzipiell ein sog. „Insolvenzplan“, das heißt eine Art Vergleich mit den Gläubigern, oder eine Investorenlösung denkbar. Welcher Weg Erfolg versprechend ist, wird sich in den nächsten Wochen näher herauskristallisieren.
Strukturierter Investorenprozess ist das Zauberwort
Dazu führt der vorläufige Insolvenzverwalter Gespräche mit den Gläubigern und hat unmittelbar nach seiner gerichtlichen Bestellung einen sog. „strukturierten Investorenprozess“ in die Wege geleitet. Dabei werden Interessenten, die für eine Übernahme infrage kommen, recherchiert und aktiv angesprochen. Unabhängig davon haben sich auch vereinzelt Interessenten von sich aus gemeldet. Diese wurden oder werden ebenfalls im Investorenprozess berücksichtigt. Wer das ist, war nicht zu erfahren, wäre aber auch unüblich zu diesem Zeitpunkt.
Der Sprecher zum Ablauf: „Nach Unterzeichnung einer Vertraulichkeitserklärung erhalten die Teilnehmer Zugang zu einem sog. ‚Datenraum‘ in dem Zahlen und Informationen bereitgestellt werden, und sind aufgerufen, ein erstes Übernahmekonzept zu präsentieren. Auf dieser Grundlage wird dann entschieden, wer vertieftere Informationen erhält oder mit wem konkrete Übernahmeverhandlungen geführt werden.
Ergebnisoffener Prozess
Der Investorenprozess ist ergebnisoffen. Das heißt, es ist sowohl eine Übertragung aller Einrichtungen und Gesellschaften der Ev.-Luth. Gertrudenstift e. V. an einen neuen Träger denkbar als auch die Übertragung einzelner Einrichtungen oder Gesellschaften an verschiedene Träger, sagt der Sprecher. Was die Phase F angeht, liege der Fokus auf einer Lösung für eine Nachnutzung der Immobilie mit dem bestehenden Personal.
Das letzte Wort über den Zuschlag hätten die Gläubiger. Ausschlaggebend sei neben dem Kaufpreis ein überzeugendes Konzept für den Standort oder die Einrichtungen. Die vordringliche Aufgabe sei jetzt, den Geschäftsbetrieb zu stabilisieren und zügig eine Sanierungsperspektive zu finden.
Bürgermeisterin ist überrascht und wünscht sich Gesamterhalt
Sehr stark ist auch die Stadt Baunatal involviert, obwohl die Tochtergesellschaft, welche die Kindergärten betreibt, vom Insolvenzverfahren nicht betroffen ist. Auf unsere Nachfrage hat sich Bürgermeisterin Manuela Strube so klar positioniert, wie es in ihrer Rolle möglich ist: „Die Entwicklung des Ev.-Luth. Gertrudenstift e. V. mit den Insolvenzen für die Ev.-Luth. Gertrudenstift e.V. als Träger des Altenpflegeheims und der Gertrudenstift Pflege gGmbH als Träger der Jungen Pflege – Wohnpflegeheim Phase F – war in dieser Dynamik nicht erkennbar und hat uns überrascht. Unser Ziel ist der Erhalt dieses zukunftsweisenden Angebots bestehend aus der Pflege im Alter, der Jungen Pflege sowie die Betreuung von Kindern sicherzustellen. Dazu habe ich schon mehrere Gespräche mit dem Pflegepersonal, der Geschäftsführung, dem Insolvenzberater und potenziellen Investoren geführt. Wir versuchen gemeinsam mit allen Beteiligten eine gute Lösung für die Einrichtung zu erreichen, auch wenn die Stadt selbst nicht im Gläubigerausschuss vertreten ist.“, so Bürgermeisterin Manuela Strube. (rs)
1 Kommentar
Ich verstehe nicht warum man sich nicht zuerst von der Verursacherin entledigt bevor man die Phase F verkauft. Frau Riese hat in den zwei Jahren ihrer Herrschaft im Gertrudenstift wirklich alles falsch gemacht was man nur falsch machen konnte. Es wäre nie soweit gekommen, hätte man auf die Stimmen gehört die sich erhoben haben. Kann mir gar nicht vorstellen, dass sie und ihr Gefolge den Insolvenzverwalter überhaupt sinnvoll unterstützen kann.
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