Soziologe Stephan Lessenich zu Gast bei Hephata
TREYSA. Er gilt als kluger Kopf, wenn es um Fragen zum Zustand unserer Gesellschaft geht. Der neue Direktor des renommierten Instituts für Sozialforschung IfS und Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt, Stephan Lessenich, ist am Donnerstag, 18. November, auf Einladung der Arbeitsgemeinschaft Toleranz zu Gast im Hephata-Kirchsaal.
Corona verschärfe bestehende Ungleichheiten, sagt der Soziologe Lessenich (56) im vorab geführten Interview mit der Hephata-Öffentlichkeitsarbeit. Die Pandemie zeige die Grenzen von Demokratie und Solidarität auf.
Covid-19 hat den Lauf der Welt jäh gestoppt. Nie war der Ruf nach gesellschaftlichem Zusammenhalt lauter. Während sich die meisten Menschen in unserem Land mittlerweile über wiedergewonnene Freiheiten freuen, stehen Einzelne mit ihren Ängsten am Rand. Drohen die Forderungen nach Solidarität zu verhallen?
„Der Ruf nach Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt ist von Anfang an verhallt, da er nur im nationalen Rahmen gedacht war. Zusammenhalt ist immer ein zweischneidiges Schwert – dort, wo zusammen gehalten wird, wird immer auch gegen etwas oder jemanden zusammen gehalten – dies hat unter anderem die Diskussion über die Impfpriorisierung gezeigt. An der Oberfläche schien das Virus eine neue Sensibilität für Gefährdungen des Sozialen zu schaffen. Mit den wiedergewonnenen Freiheiten ist diese Zeit jedoch schon wieder an ihr Ende gekommen.“
Stephan Lessenich
Welche Folgen hat dies für unsere Gesellschaft und das Miteinander in der Nach-Corona-Zeit?
„Dies wird man erst in Zukunft sehen. Corona hat die Welt nicht besser gemacht – durch die Pandemie ist deutlich geworden, dass sozialer Zusammenhalt auch etwas Ausschließendes hat. Denken wir an die Diskussion über Homeoffice: Zwei Drittel der Deutschen haben gar keine Möglichkeit, ihre Arbeit von zu Hause aus zu erledigen – dies war also eine Phantom-Debatte. Nicht nur hier ist die Schieflage unserer Gesellschaft deutlich geworden. Die Pandemie wirft gerade ein Licht auf die vorhandenen Ungleichheiten.“
Stephan Lessenich:
Vor allem Querdenker gehen auf die Straße, um für ihre demokratischen Rechte und Freiheiten zu demonstrieren. Andere von den Folgen der Pandemie stark betroffene Gruppen wie
Schulkinder, Solo-Selbstständige oder Pflegebedürftige werden kaum gehört. Was macht die Pandemie mit der Demokratie?
„Die Pandemie hat auch ein Schlaglicht geworfen auf den Zustand der hiesigen Demokratie. Man muss den Querdenker-Irrsinn nicht teilen, aber der Eindruck ist richtig, dass die Exekutive lange Zeit einfach entschieden hat, ohne dass es eine parlamentarische Debatte gab. Hier wurden Entscheidungen schlicht dekretiert, von oben herab, eine Politik nach Gutsherren-Art. Das ist für die Demokratie ein Riesen-Problem. Die Frage, wie mit der Pandemie umgegangen werden soll, ist ein Indikator für den Mangel an öffentlicher Debatte. Fragen wie etwa nach der sozialen Bedeutung von Schulbildung in Deutschland wurden kaum gestellt. Die Schulschließungen waren eine Katastrophe für viele Schülerinnen und Schüler. Sie haben die Bildungsgräben weiter vertieft. Da hätte es frühzeitig eine politische Debatte geben müssen. Auch bei der Frage der Impfpriorisierungen hat sich ein riesiges Demokratie-Defizit in der Gesellschaft gezeigt: Nie wurde darüber diskutiert, wer als besonders gefährdet zu gelten hat.“
Stephan Lessenich:
Von Bildungsgräben haben Sie gerade schon gesprochen. Wer einen Laptop, einen eigenen Garten und einen festen Job hat und nicht auf die Hilfe Anderer angewiesen ist, kam besser durch die Pandemie als jemand, der sich all dies nicht leisten kann und auf Unterstützung Anderer angewiesen ist. Wie lassen sich diese Ungleichheiten überwinden?
„Wir müssen die bestehende Demokratie demokratisieren. Ob Arbeit, Bildung oder Erziehung: Betroffene müssen Mitsprache haben, es muss selbstverständlich werden, dass Eltern oder Beschäftigte an ihrem Arbeitsplatz in Gestaltungsfragen mitgehört werden. Auch muss das Bildungssystem gerechter und das dreigleisige Schulsystem in Deutschland endlich überwunden werden, denn die sozialen Ungleichheiten werden damit immer wieder neu zementiert – wer in der Pandemie aufs Gymnasium ging, hatte wieder einmal die eindeutig besseren Karten.“
Stephan Lessenich:
Hephata heißt „Öffne Dich“. Soziale Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen zu ermöglichen, ihnen Türen zu öffnen und selbst offen zu sein, gehört zu den Zielen der Hephata Diakonie. Der Lockdown hatte dies vor große Herausforderungen gestellt. Welche Schlüsse lassen sich aus solch einer Erfahrung heraus für die Zukunft ziehen?
„Die Idee der Öffnung muss man ernst nehmen. Aber auch sie zeigt die Grenzen der Demokratie – Öffnungen gehen selten ohne neue Schließungen vonstatten, soziale Teilhabe-Chancen und Mitspracherechte sind Verteilungsfragen. Öffnung heißt auch das Annehmen der Menschen als Gleichberechtigte. Dies müsste auch für die zehn Millionen Nicht-Deutsche in unserem Land gelten, die im wahlberechtigten Alter sind, aber hier nicht wählen dürfen. Die Frage muss immer lauten, wer bleibt unberücksichtigt?“
Stephan Lessenich:
Wir Menschen des globalen Nordens leben auf zu großem Fuß zulasten des Planeten Erde und auf Kosten des globalen Südens, ist eine Ihrer Thesen. Globalisierung, Klimakrise, jetzt auch noch Corona-Krise – wie kann diese Erfahrung in konstruktives politisches Handeln übersetzt werden?
„Zoonosen wie Covid-19 sind der Art und Weise geschuldet, in der unsere Wirtschaftsweise den Planeten Erde ruiniert. Gerade die jüngste Erfahrung hat gezeigt, dass es eine globale Verantwortung gibt: Wenn in anderen Weltregionen nur wenige Prozent der Bevölkerung geimpft sind, ist das ein humanitärer Skandal. Im Übrigen hört die Pandemie so niemals auf. Im Grunde ist es sowieso schon fünf nach zwölf: Um die Risiken einer erneuten Pandemie zu reduzieren, müssen wir umsteuern und die Art des Wirtschaftens, Produzierens und Konsumierens verändern.“
Stephan Lessenich:
Müssen wir Chancengleichheit neu definieren?
„Es ist eine Fiktion, zu denken, dass es in dieser Gesellschaft gleiche Startchancen und Chancengleichheit gäbe – nehmen wir nur das Beispiel von migrantischen und Akademikerhaushalten. Eigentlich ist die Aufgabe ganz klar: Wir müssen denjenigen, die weniger haben, mehr geben. Und denen, die gut gestellt sind, wird man einige Chancen nehmen müssen. Da geht es schlicht um Umverteilung! Dies halte ich für eine vorrangige gesellschaftliche Aufgabe, die nicht von Einzelnen bewältigt werden kann. Da müssen die Institutionen ran.“
Stephan Lessenich:
Was wünscht sich Stephan Lessenich in diesen Zeiten persönlich?
„Persönliches und Politisches kann ich für mich nur schwer trennen. Ich wünsche mir, dass gesellschaftlich mehr debattiert wird, und dass nicht nur Wissenschaftler und Politiker gehört werden, sondern dass die öffentliche Diskussion auch offen ist für andere Stimmen.“
Stephan Lessenich
Veranstaltung am 18. November um 20 Uhr im Hephata-Kirchsaal
Prof. Dr. Stephan Lessenich ist seit Sommer neuer Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt und Direktor des renommierten Instituts für Sozialforschung IfS. Zu einem Vortrag mit anschließendem Gespräch ist der Soziologe am Donnerstag, 18. November, um 20 Uhr zu Gast im Hephata-Kirchsaal.
Der Autor zahlreicher Bücher („Nach uns die Sintflut“, „Grenzen der Demokratie“) tritt als neuer Direktor in die Fußstapfen bekannter kritischer Soziologen wie Horkheimer und Adorno. Lessenich, von 2013 bis 2017 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, gilt als Wissenschaftler, der nicht nur lehrt, sondern sich auch in die politische Debatte einmischt.
„Grenzwertig. Demokratie und Solidarität in Zeiten von Corona“ heißt der Titel seines Vortrags, den Lessenich, der von 1983 bis 1989 in Marburg Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte studierte, am Donnerstag, 18. November, im Saal der Hephata-Kirche hält Es lädt ein die „Arbeitsgemeinschaft Toleranz“, bestehend aus Hephata Diakonie, Diakonischer Gemeinschaft Hephata, Hephata-Akademie für soziale Berufe, Hephata Allgemeinem Studierenden-Ausschuss (HAStA) und dem Evangelischen Forum Schwalm-Eder.
Der Eintritt ist frei, eine Teilnahme ist nur nach vorheriger Anmeldung möglich. Anmeldungen online unter www.hephata.de/toleranz. Auf dieser Seite wird es auch einen Live-Stream des Vortrags geben. Für die Präsenzveranstaltung gilt die 2G-Regel: Nur Geimpfte und Genesene haben Zutritt.
3 Kommentare
Um die Demokratie zu Demokratisieren bräuchten wir erst einmal eine echte Basisdemokratie so wie in der Schweiz wo Volksabstimmungen zum alltäglichen Geschäft gehören, leider sind aber unsere Volksvertreter die wir das Volk Gewählt haben der Ansicht das das Volk nicht in der Lage sei über Politische Entscheidungen zu Entscheiden.
So lang das so ist können die Wähler ihr Kreuzlein alle 4 Jahre machen wo sie wollen , es wird sich aber nichts grundlegend Verändern.
Hinzu kommt noch erschwerend der viel zu große Einfluss der Lobbyisten die im Bundestag ein und aus gehen.
@ Münchinger
Auch die Schweiz wählt Parlamente und es gibt nur wenige grundlegende Entscheidungen, die vom Volk der Schweiz getroffen werden. Dazu kommen noch die Kosten die eine Direktwahl zu grundlegenden Entscheidungen vom Volk getroffen werden. Eine bundesweite Wahl = Entscheidung für ein Entweder – Oder kostet jeweils mehr als 100.000.000 €, denn Deutschland hat mehr als 10 x so viele Wahlberechtigte wie die Schweiz. Auch in der Schweiz arbeiten Lobbyisten, möglicherweise, viel direkter als bei uns. Am Beispiel der AfD kann man sehen, wie Einflussnahmen aus der Schweiz bei uns wirken. Sie sollten sich mal etwas informieren, bevor Sie solche Forderungen erheben. Aus der Schweiz wurde Frau Weidel von der AfD mittelbar gefördert, indem Spenden aus der Schweiz an ihren Landesverband geflossen sind. Diese Spenden musste sie zurückgeben und der BT Präsident hat sie dafür gerügt und eine Strafzahlung verhängt.
Er wünscht sich: “ […] dass die öffentliche Diskussion auch offen ist für andere Stimmen.“
Diesem Wunsch möchte ich gern entsprechen!
„Wir müssen denjenigen, die weniger haben, mehr geben“ Nein, müssen wir nicht! Natürlich gibt es keine perfekte Chancengleichheit. Um das zu erkennen muss man nicht Soziologie studiert haben. Ein Mädchen aus einer muslimischen Migrantengroßfamilie, die von Sozialleistungen des Gastgeberlandes lebt und dessen Eltern nicht deutsch sprechen kann niemals die gleichen Startchancen haben wie ein Kind aus einer Einkind-Akademikerfamilie in der sich intensiv um dessen Erziehung, Ausbildung und Wohlergehen gekümmert wird. Daran kann niemand etwas ändern. Aber der Andrang an unseren Grenzen beweist trotzdem, dass es hier bei uns doch nicht so schlecht sein kann. Man möge mir ein Land nennen in dem sich um Benachteiligte substanziell besser gekümmert wird als bei uns. In unserer Gesellschaft haben alle die gleichen Rechte. Das ist gesetzlich verbrieft. Ein soziales Netz ist gespannt, der Rest muss durch Eigenleistung erfolgen.
Betrachtet man die gesellschaftlichen Unterscheide, dann liegt es in der Regel (von unverschuldeten Notlagen bzw. Krankheit abgesehen) an der eigenen Leistungsfähigkeit. Es ist nicht die Aufgabe der Gesellschaft jeden auf ein durchschnittliches Lebensniveau zu alimentieren. Das, was dem Herrn Stephan vorschwebt, riecht für mich nach Sozialismus. Aber nach zwei deutschen Diktaturen sollte jeder begriffen haben: nie wieder Faschismus, nie wieder Sozialismus! Denn besonders der Sozialismus ist ein Feind der Freiheit. Im Namen keiner anderen Ideologie kamen mehr Menschen zu Schaden.
Grundsätzlich: Soziale Leistungen und die Freiheit des Einzelnen sind sich widersprechende Elemente. Um soziale Wohltaten verteilen zu können muss man es anderen Personen die diese erarbeitet haben wegnehmen – also deren Freiheit (am Eigentum) einschränken. In einem sehr sozialen Staat (z.B. Kuba) werden sich aber irgendwann die erwitschaftenden Personen gegen die Wegnahme ihrer erarbeiteten Güter auflehnen. Folglich muss man die (politische) Freiheit einschränken. Es kann niemals Sozialismus in Freiheit geben.
Obige Schlussfolgerung kann man nicht besser beweisen, als mit dem Satz „Und denen, die gut gestellt sind, wird man einige Chancen nehmen müssen.“, da packt mich das blanke Entsetzen! Welche Steine will Herr Stephan den Leistungsträgern der Gesellschaft künstlich in den Weg rollen? Mir fallen als Extrembeispiel Kambodschas Rote Khmer ein, die Personen, die Klavier spielen konnten, die Finger brachen. Gleichstellung der brutalen Art – anschließend konnte keiner mehr Klavier spielen.
Die derzeit grassierende Idee von „Gleichstellung“ und „sozialer Gerechtigkeit“ ist so, als ob ich im 100 m Lauf gegen Usain Bolt antrete und anschließend verlange mit ihm auf dem ersten Platz zu stehen, weil er unfairerweise die besseren Sprintergene besitzt.
Da Herr Stephan von sich selbst behauptet, sich nicht nur auf Wissenschaft zu konzentrieren, sondern auch politisch einmischt, hoffe ich er toleriert meine gegenteilige Meinung. Wie sich seine Thesen [gut Gestellten die Chancen nehmen] mit dem Mäßigungsgebot als Beamten vertragen kann ich nicht beurteilen. Ich denke aber, dass es eine Unsitte geworden ist, dass Wissenschaftler glauben politisch aktiv sein zu müssen und Journalierende glauben mit Haltung berichten zu müssen.
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