Wenn Schüsse fallen, nachdem Worte fallen…
LOHFELDEN. Wenn Erich Honecker irgendwann vor dem 9. November 1989 gesagt hätte, das Recht eines jeden DDR-Bürgers, der mit Werten des Staates nicht einverstanden ist, sei es, jederzeit das Land zu verlassen, hätten die weitaus meisten Menschen aus DDR und Bundesrepublik applaudiert! Auch diejenigen, die einen ähnlichen Satz von Dr. Walter Lübcke mit dem Tode „abgestraft“ haben.
Über diesen Anachronismus dachte gestern im Bürgerhaus Lohfelden nicht nur Bürgermeister Uwe Jäger nach. Bereits am 24. September 2020, daran erinnerte die stellvertretende Vorsitzende der Gemeindevertretung, Paula Götze, wurde parteiübergreifend der Beschluss gefasst, den Platz vor dem Bürgerhaus in Dr.-Walter-Lübke-Platz umzubenennen. Die Gemeinde, so Frau Götze, wolle ein Zeichen setzen.
Keine sorgsam zurechtgelegten Worte
Es ist fast sechs Jahre her und es ist derselbe Ort, nämlich das Bürgerhaus Lohfelden, an dem der Kasseler Regierungspräsident einen Satz aussprach, der seit gestern vielleicht mehr Menschen hinter sich vereint, als er es ohne die schreckliche Tat vom 2. Juni 2019 jemals vollbracht hätte. Am 14. Oktober fand am Ort der gestrigen Gedenkfeier eine Veranstaltung statt, in der, wie Uwe Jäger und Hessens Justizministerin Eva Kühne-Hörmann erklärten, die Bevölkerung informiert und gehört werden sollte, als in Lohfelden eine Unterkunft für Geflüchtete entstand. Die Versammlung sollte Angst abbauen und Dialog ermöglichen. Stattdessen, so ist dokumentiert, hatten sich fremdenfeindliche Störer im Saal verteilt und permanent Beleidigungen, Diffamierungen und Worte voller Hass und Verachtung in den Saal, Richtung Walter Lübcke gebrüllt.
„Schicksal des Menschen, wie gleichst du den Wind“. Mit diesem Goethe-Zitat hat Frau Götze versucht etwas zu erklären, was kaum zu verstehen ist. Aber wenn am Ende dieser Satz, der, wie Eva Kühne-Hörmann sagte, nicht etwa aus sorgsam zurechtgelegten Worten entstand, sondern nach Rufen wie „Scheiß Staat“ und „Scheiß Regierung“ unmittelbar von Herzen kam, jetzt und für alle Zeit, als humanistisches Statement in die Geschichte eingeht, dann ist von Dr. Walter Lübcke etwas für die Ewigkeit geblieben.
Die Frage nach dem Sinn bleibt lebendig – der Hass auch
Das allein, kann die Familie nicht trösten und macht die Tat nicht besser oder gibt ihr am Ende gar einen Sinn. Wut und Hass sind immer sinnlos aber eben weit verbreitet. Und sie nehmen zu, wie Eva Kühne-Hörmann angesichts neuer Mails und Kommentare in den sozialen Netzwerken betonte. Sie waren vor dem Hintergrund der Ehrung und Enthüllung einer Gedenktafel bereits wieder im Netz unterwegs. Was hatte Walter Lübke gesagt?
„Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten. Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden deutschen.“
Der früher gegenüber Unzufriedenen in der Bundesrepublik gerne benutzte Satz, „dann geh doch rüber“, hat mit der Deutschen Einheit, die wir heute außerdem feiern, seine Bedeutung vollständig verloren. Er wurde aber vor allem von denen benutzt, die jeden sozialen Gedanken als sozialistischen Gedanken eingestuft haben. Mithin auch diejenigen, die in den letzten sechs Jahren den Satz von Dr. Walter Lübcke so sehr gehasst haben, dass sie den – stets humanistische Gedanken lebenden Regierungspräsidenten – umgebracht haben. Eva kühne-Hörmann stellte klar, dass er mit dieser Aussage niemandem den Mund verbieten wollte. Ganz im Gegenteil! Es ging ausschließlich um den Hass, der in keiner demokratischen und humanistisch oder christlich geprägten Gesellschaft einen Platz haben kann.
Ort der Menschlichkeit und der Toleranz
Uwe Jäger erinnerte daran, dass christliches Gedankengut auch im Nationalsozialismus nie Platz hatte, weil es von den Machthabern als Bedrohung angesehen wurde. Er räumte ein, dass er bis kurz vor dem gestrigen Termin nicht wusste, wie er seine Gedanken in Worte fassen sollte. Wie soll man etwas artikulieren, was man nicht begreift?
Sehr bewegende Worte fand Lohfeldens Pfarrer Klaus-Dieter Inerle, der klarstellte, dass man Menschenverachtung und Gewalt nicht mehr bekämpft, wenn sie schon um sich gegriffen haben. Er drückte Bewunderung aus für die Familie von Dr. Walter Lübcke, die sich heute wünschen könnte, nicht erinnert zu werden. Zwei Jahre danach sollte man aber nicht wegsehen, wenngleich die Suche nach Antworten letztlich nicht befriedigt werden wird. Vielleicht, so Inerle, wird der Platz Zukünftig zu einem Ort der Menschlichkeit und Toleranz. „Wir haben nicht alles geschafft, aber vieles. Engagement sei notwendig, damit die Gesellschaft ihr menschliches Gesicht zeigen kann.
Ewige Mahnung, um für Demokratie zu streiten
Die Tafel erinnert daran, dass es sich lohnt in diesem Land zu leben, für das sich der Ermordete stets eingesetzt und sich vom Schicksal anderer hat anrühren lassen. Die Leben der Familie sind weitergegangen und Irmgard Braun-Lübcke, die Witwe von Walter Lübcke, stellte bei der Enthüllung der Gedenktafel klar, dass niemand drumherum kommt, sich mit Beweggründen und Ursachen für die Tat auseinanderzusetzen. Die Tat sei eine Mahnung, um für die Demokratie zu streiten und sich gegen Attacken und Ausgrenzung einzusetzen.
Eine Gedenkfeier, umrahmt von Musik des Staatsorchesters Kassel, gegen den Gewöhnungseffekt und in Erinnerung an eine unterschätzte Wahrheit: aus Worten können Taten werden…!“ Dr. Walter Lübcke hat an diesem Ort Position bezogen und letztlich hier für immer diesen Platz positiv besetzt. Wenn Schüsse fallen, nachdem Worte fallen, werden diese Worte stets zur ewigen Mahnung. (Rainer Sander)