NORDHESSEN. Politiker sind leuchtende Vorbilder. Sie haben in ihrer Vergangenheit keine Fehler gemacht. Achtung: die Vergangenheit reicht zurück bis zum 14. Lebensjahr, dem Beginn der Strafmündigkeit, denn so weit rückwärts werden Skandalsucher, politische Gegner und politische „Mitstreiter“ gleichermaßen, sowie eifrige Enthüllungsjournalisten oder Plagiatsjäger alles ausgraben, was in der Vergangenheit und im Internet aufzufinden ist.
Gute Politiker haben niemals bei einer Klassenarbeit abgeschrieben, nie an einen Joint gezogen, mit ihnen konnte keiner Kirschen in Nachbars Garten klauen und deshalb sicherlich auch keine Pferde stehlen. Sie haben stets akkurat ihren Job erledigt, sich nie von Gefühlen leiten lassen und deshalb immer sachlich alles abgewogen. Allein deshalb waren sie stets vor Beeinflussung und Versuchungen geschützt: Immer sauber, immer korrekt! Andererseits mögen wir es auch nicht, wenn man Politiker nicht richtig „fassen“ kann?
Streber und Petzer sind die besten Politiker?
Im Grunde wollen wir diejenigen als Politiker, die in der Schule schon alles besser wussten, uns aber nie haben abschreiben lassen, die auf dem Schulhof bei keiner Rauferei dabei waren, uns im Zweifel dafür beim Lehrer verpetzt haben, weil sie schon mit 14 für Recht und Ordnung eingetreten sind. Und sie hatten niemals einen Spickzettel! Sie hatten dafür die Einsen in den Klassenarbeiten, während wir Blaue Briefe bekamen. Das waren diejenigen, die wir nie als Freunde haben wollten, und die weder uns noch andere als Kumpels hatten.
Gleichzeitig pflegen wir eine tiefe Sehnsucht nach Politikern, die bürgernah sind, die mit den Menschen abends ein Glas Wein trinken, mit ihnen lachen und ihre Sorgen teilen. Wir möchten auch, dass ALLE Politiker, IMMER, in JEDER Sitzung im Bundestag anwesend sind und wundern uns gleichzeitig, dass sie in ihrem Wahlkreis nicht bei jeder Veranstaltung gesehen werden. Dann glauben wir nämlich, sie hätten keine Lust oder wären sich zu fein. Andererseits hätten wir gerne weit weniger Politiker, also noch viel größere Wahlkreise und die Abgeordneten trotzdem dort ständig wahrnehmen. Denn wir wollen niemanden wählen, den wir nicht kennen.
Der Mindestlohn reicht für 24/7
Wir ertragen es nicht, wenn ein Politiker mehr Geld verdient als wir. Eigentlich sollte sie oder er mit dem Deutschen Durchschnittsgehalt zufrieden sein. Das liegt so bei 2500 € im Monat. Gleichzeitig erwarten wir, dass ein Politiker an 365 Tagen im Jahr präsent ist und Verantwortung wahrnimmt, möglichst 24 Stunden am Tag, nonstop. Er könnte ja mal, wie ein Schichtarbeiter, morgens um 5:00 Uhr am Werkstor stehen und abends um 23:00 Uhr noch mit den Wählern auf der Kirmes tanzen, dazwischen Konflikte beheben, Gutes tun und Lösungen für alle Probleme finden. Auch im Urlaub!
Für ein Salär, hart am Mindestlohn, erwarten wir gleichzeitig Typen, die besser sind als alle Top-Manager auf dieser Welt. Dazu gehören Fachkompetenz auf allen wichtigen wissenschaftlichen Gebieten; wirtschaftliche Kompetenz, um auch den Unternehmen erklären zu können, wie eine Volkswirtschaft funktioniert und um Staatsunternehmen zu führen; juristische Fähigkeiten, um jedes Gesetz wasserdicht zu formulieren und jedem Bürger jederzeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; medizinische Kompetenz, um jeder Infektion und Pandemie Herr zu werden; und gleichzeitig Empathie und Mitgefühl, um allen Menschen in jeder Lebenssituation einen guten Rat geben zu können.
Mit Schippe und Schaufel die Krawatte binden?
Ein Politiker oder eine Politikerin muss gleichzeitig alle neuen Technologien kennen, die Digitalisierung im „Effeff“ beherrschen, Visionen haben für eine leuchtende Zukunft und gleichzeitig in der Lage sein, mit Despoten, Diktatoren und Verrückten zu verhandeln. Wir wollen im selben Moment Exportweltmeister sein aber Waren aus dem Ausland nicht zulassen. Andererseits möchten wir, dass Politiker die gesamte Fertigung von Textilien, Medikamenten, Autos und was immer an Industrie-Produktion ins Ausland abgewandert ist zurückholen, protestieren jedoch gegen jeden Fabrikneubau und jeden Meter Straße. Nach deutschem Recht ist es inzwischen gar nicht mehr möglich, die Produktion zurückzuholen. Dafür sollten Politiker die Bürokratie abbauen, im Gegensatz dazu allerdings schlussendlich noch das Klima retten. Sie sind schuld an der Trockenheit und gleichzeitig an zu viel Regen.
Wenn eine Politikerin oder ein Politiker in ihrer Amtszeit eine Naturkatastrophe erleben, dann ärgern wir uns, wenn sie im Katastrophengebiet auftauchen und freundliche Worte sagen. „Das haben wir jetzt gerade noch gebraucht!“ Gleichzeitig würden wir allerdings alle Politiker verdammen und öffentlich zerreißen, würden sie nicht kommen. Wir möchten, dass Politiker schnell dafür sorgen, dass Geld fließt, wenn Menschen in Not sind, aber wenn sie sich darum kümmern, werden wir sie genau dafür verurteilen, dass sie nicht vor Ort Schippe und Schaufel in die Hand genommen haben, um mit anzupacken. Und wenn einer, in einem Leben voll ständiger Anspannung und ohne Pause, mal im falschen Moment lacht, dann ist auch das freilich eine Todsünde. Ein Politiker, der verantwortungsbewusst ist, lacht sowieso nicht. Er weint allerdings auch nicht, denn dann würden wir das als Schwäche interpretieren. Politiker sind also souverän und möglichst nicht von Emotionen geleitet, aber gleichzeitig wunderbare Familienmenschen voller Fürsorge.
Mehrheiten werden überschätzt!
Ganz selbstverständlich schaffen wir es inzwischen permanent dafür zu sorgen, dass niemand mehr in irgendeinem Parlament eine eindeutige Mehrheit hat – was eigentlich ganz o. k. ist – erklären aber jede Politikerin und jeden Politiker zum Lügner, wenn sie mit anderen Politikern Kompromisse schließen müssen, weil wir als Wähler seit Jahren schon auf Koalitionsbereitschaft setzen.
Wir finden es übrigens auch verwerflich, wenn Politiker eine andere Altersabsicherung haben, fallen aber jedes Mal in Panik und Entsetzen, wenn sie nach ihrer Karriere einen guten Job annehmen. Ein Politiker arbeitet nach seinem Politikerleben gefälligst nicht mehr, verzichtet aber auch auf jede Rente.
Wir selbst könnten das alles zwar mit Leichtigkeit, genauso wie wir auch pausenlos Fußball-Weltmeister werden würden, wären wir Bundestrainer, aber bei einer Wahl antreten, das werden wir natürlich nicht! Wir wollen schließlich nicht alles wissen, alles können, in solch einem aufreibenden Job so wenig verdienen und schließlich lieber ein Privatleben haben, ins Fitnessstudio gehen und abends ein Bier trinken können, ohne ständig beleidigt und beschimpft zu werden, wie es zum Politikerleben heute ganz einfach gehört.
Jedes Volk verdient seine Politikerinnen und Politiker
In zwei Monaten ist Bundestagswahl und da werden wir jede Menge von genau diesen Politikern wählen können, die bereit sind, sich 24/7 im Internet shitstormen zu lassen, nicht bei jeder Sitzung in Berlin, aber auch nicht bei jedem Event in ihrem Heimatort blicken lassen. Frauen und Typen, die nicht alles wissen, sich aber jeder Verantwortung stellen und alle vier Jahre zur Wiederwahl antreten, mit dem Risiko, dass alles nach vier Jahren wieder vorbei ist. Vielleicht stimmt es, dass jedes Volk die Politiker bekommt, die es verdient?
Ihr
Rainer Sander
5 Kommentare
GEZ Erhöhung, Gesundheitspolitik, Helden in der Pflege, Müllentsorgung, MAN MACHT MIT DEM STEUERZAHLER WAS MAN WILL ! Ich komme mir vor wie eine regelmäßig gemolkene Kuh aber deren Milchpreis nie erhöht wird.
Politiker zu sein, ist nicht so einfach, dass ein Außenstehender leicht empört sein kann, aber ein Politiker ist schneller korrumpierbar als der normale Bürger denkt. Die Lobbyisten stehen bereit, um Politikern zu helfen eine wohlwollende Entscheidung zu treffen. Man hat gesehen, wie leicht sich junge, aufstrebende Politiker einwickeln lassen und gleich zugreifen, wenn es um Verteilung von Zuwendungen gibt. Andere nehmen gestückelte Großspenden, um sie dann nicht anzumelden müssen. Ein leben als Abgeordneter hat auch mit viel Engagement zu tun, man muss sein ganzes Laben danach ausrichten und auch das Laben der Familie, deswegen müssen sie auch ein dickes Fell und ein entsprechendes Einkommen haben.
Jo, kann man genau so stehen lassen
Man muß über die meisten Politiker nichts schlechtes sagen. Die Wahrheit reicht aus.
Bravo, Satz für Satz auf den Punkt gebracht 👍
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