Mit Sicherheit – Baunatal der Zeit voraus
BAUNATAL. Wie weit senkt man Bordsteine an Kreuzungen ab? Was ist barrierefrei? Was ist behindertengerecht? Was ist für Rollstuhlfahrer gut, für Radfahrer schön, für Senioren hilfreich, für Fußgänger nicht ärgerlich und macht blinde Menschen nicht orientierungslos? Viele Fragen, mit denen sich ein Fachbereich für den Straßenbau in einer Stadt heute beschäftigen muss.
Baunatal hat sehr früh damit begonnen, Straßen, Wege, Gebäude, also den gesamten öffentlichen Raum barrierefrei, behindertengerecht und seniorenfreundlich zu gestalten. Holprige Kanten wurden häufiger entfernt als in jeder anderen nordhessischen Kommune, was am Ende sogar dazu führte, dass die nordhessische Autostadt schlechthin, zur fahrradfreundlichsten Stadt Hessens wurde.
188 Kreuzungen sind barrierefrei
Gebäude und Wege wurden bei jeder Baumaßnahme entsprechend gestaltet und jedes Jahr zahlreiche Fußwege/Bürgersteige entsprechend angepasst. An 566 Absenkungen im Bereich von 188 Baunataler Kreuzungen gibt es praktisch keine Bordsteinkanten mehr, lässt sich tatsächlich barrierefrei die Straße überqueren. Um auch sehbehinderten Menschen Orientierung und selbstständiges Bewegen zu vereinfachen, wurden gleichzeitig sogenannte Rippenplatten verlegt. Allein beim Begehen einer Kreuzung spürt man, dass dort, wo diese Platten liegen, der richtige Punkt ist, die Straßenseite zu wechseln. Mit dem weißen Langstock (oder Blindenstock) ertastet man den Bereich sehr leicht, wenn die Augen das nicht leisten können.
Baunatal war vielen Kommunen voraus und einige von ihnen haben sich durchaus in Baunatal etwas für eigene Baumaßnahmen abgeguckt. Alles richtig gemacht, könnte man behaupten und sich entspannt zurücklehnen. Wäre da nicht vor etwa einem Jahr die Frage aufgetaucht, ob die Rippenplatten überhaupt korrekt verlegt wurden. Selbst in der Stadtverordnetenversammlung war dies ein Thema und für die Minderheitsfraktionen ein scheinbarer Angriffspunkt. Hat der zuständige Fachbereich oder die damalige Dezernentin und heutige Bürgermeisterin Baunatals Barrierefreiheit gar dilettantisch ausgeführt?
Intensive Prüfung und Untersuchung abgeschlossen
Mitarbeiter des Fachbereiches Bau und Umwelt, der Bürgerbeauftragte Heinz Kaiser, der Seniorenbeirat und der Behindertenbeirat haben sich inzwischen jede Baunataler Kreuzung angesehen, an denen Bordsteine abgesenkt wurden und sind nach Rücksprache mit Fachbehörden oder beim Hessischen Städte- und Gemeindebund nun zu einem Ergebnis gekommen, das Erster Stadtrat Daniel Jung gestern der Presse präsentierte.
Baunatal war der Zeit und der Entwicklung tatsächlich weit voraus. Bereits im Jahr 2006 hat die Stadt Baunatal mit Gehweg-Absenkungen in Kreuzungsbereichen begonnen. Damals waren die Querungshilfen für Sehbehinderte noch klobige Betonplatten, heute sind die Rippenplatten dünner, kleiner und flexibler zu verlegen. Vor allem wurden erst im Jahr 2010, also vier Jahre später, erste DIN-Normen veröffentlicht, die in den Jahren 2011, 2014, 2015 und 2018 ergänzt, erweitert oder zusätzlich entwickelt wurde. Heute müssen die Rippen der Rippenplatten so verlegt sein, dass sie die optimale Geh-Richtung anzeigen. Sie dürfen Sehbehinderte also nicht in die falsche Richtung schicken und gar in Gefahr bringen.
Und tatsächlich liegen etwa ein Drittel, nämlich 206 waren Absenkungen nach heutigen Normen nicht ganz korrekt, 360 hingegen entsprechen den gültigen Richtlinien.
Kein akuter Handlungsbedarf – aber trotzdem handeln
DIN-Normen haben, so Daniel Jung, keine Gesetzeskraft, sind aber durchaus auch für Gerichte eine Orientierung. Zwar gibt es keine Vorschrift, die dazu zwingt, Bauten anzupassen, wenn sich Normen nachträglich ändern – dann wäre heute fast jeder Altbau ein Sanierungsfall – aber im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht könnte die Beachtung einer Norm durchaus – im Ernstfall – eine gewisse Relevanz entwickeln.
Wie schwer es ist, es allen richtig zu machen, erläuterte Fachbereichsleiter Hartmut Wicke. Die Planer und Straßenbauer haben gerne ein paar Zentimeter Kante, um Wasser abfließen zu lassen und im Winter Eisbildung zu verhindern. Radfahrer hätten gerne eine Absenkung auf Null Zentimeter, Senioren und Rollstuhlfahrer mögen weder Kanten noch Stolperfallen, während sich Sehbehinderte mit ihrem Stock gerne an einer deutlich spürbaren Höhendifferenz von etwa sechs Zentimetern orientieren. Es ist kaum möglich, für alle das richtige zu tun.
Jede Kreuzung wird noch einmal analysiert
Die Verbände für behinderte und sehbehinderte Menschen haben auch darauf hingewiesen, dass sich erblindete und sehbehinderte Menschen – an ihnen unbekannten Orten – nie allein orientieren und davon unabhängig, immer mehrere Orientierungspunkte in Entscheidungen einbeziehen. So würde sich ein sehbehinderter Fußgänger nicht ohne weiteres in Richtung Verkehrslärm bewegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Schwerwiegendes passiert, ist also gering, ein gesetzlich motivierter Handlungsbedarf besteht ohnehin nicht.
Soweit die Fakten- und Rechtslage. Dennoch wird die Arbeitsgruppe „barrierefreies Bauen“ unter der Federführung des Behindertenbeirates (Egon Bader) jetzt alle Kreuzungen noch einmal unter den nun bekannten Aspekten bewerten, priorisieren und der Fachbereich Bau und Umwelt wird dann entsprechende Maßnahmen umsetzen, um Gefährdungen für die Zukunft auszuschließen. (rs)