Romana Reiff und Lucy Hobrecht trotzen politischer Vernachlässigung
KASSEL. Künstlerinnen und Künstler leben der Volksmeinung nach nicht vom Geld, sondern vom Applaus. Die einerseits romantische Darstellung offenbart andererseits auch ein Stück Wahrheit. Wer auf einer Bühne steht, braucht Kommunikation und die Rückmeldung seines Publikums. Das gilt analog auch für Pfiffe und Buh-Rufe…
Im Moment ist es für Künstlerinnen und Künstler nahezu unmöglich sowohl Pfiffe als auch Applaus zu empfangen. Gemäß der Theorie wären diese Solo-Selbstständigen tatsächlich akut vom Hungertod bedroht, wenn nämlich echtes Geld und Beifall (oder Pfiffe) gleichzeitig ausbleiben. Tatsächlich scheint Hartz IV das einzige Angebot der Regierung für die kreative Elite der Republik zu sein.
Wahre Kreativität entwickelt sich in Amtsstuben
Die wahren Künstler sitzen jetzt in den Amtsstuben. Dort wird Kreativität im Umgang mit finanziellen Hilfen geübt, Strategien zur Verhinderung von Zahlungen im Rahmen eigentlich unbürokratische Ideen mit Erfindungsreichtum ausprobiert, mit dem Ergebnis, dass die meisten zur Verfügung gestellten Gelder gar nicht abgerufen werden. Damit ist es für die Bundesregierung ein leichtes, die Mittel ein zweites Mal als noch großzügigere Hilfe anzupreisen. Auch das zeugt von künstlerischer Kreativität, genauso wie Wortschöpfungen wie „Solo-Selbstständige“. Als gäbe es plötzlich eine neue Rechtsform.
Der Unterschied zu klassischen Künstlern: wer politisch und verwaltungstechnisch kreativ wird, muss selbst in Corona-Zeiten nicht auf einen einzigen Cent Gehalt verzichten. Die Sängerin und Komponistin Romana Reiff hat sich bei Facebook gerade sehr humorvoll mit den neuen Hilfen beschäftigt:
Die ultimative Ruhigstellungsstrategie
„Nachdem ich heute Morgen“, schreibt sie am 9. November, „das gesamte Netz erfolglos nach dem lang und breit angepriesenen Erstattungs-Antrag mit 75 % zur super-schnellen „Novemberhilfe“ abgesucht hatte, rief ich kurzerhand einfach mal im Bundesfinanzministerium an! Nach drei Mitarbeiter/innen (mit völlig unterschiedlichen Sozialkompetenzen) zuerst beim Bundesfinanz- und später beim Bundeswirtschaftsministerium, wurde es dann doch noch überraschend erhellend und irgendwie ernüchternd: ‚Wir sind auch sehr enttäuscht über die aktuelle Sachlage! Den Antrag für die angepriesene Novemberhilfe gibt es bisher nicht und wir gehen auch nicht davon aus, dass es ihn noch im November geben wird‘“.
Ihren Kolleginnen und Kollegen teilt sie resignierend mit: „Bedeutet im Klartext: Die Antragstellung für das total unbürokratische und extrem schnelle ‚Novembergeld‘ (was bezeichnenderweise auch so heißen wird), wird im ‚November‘ weder auf eurem Konto ankommen, noch wird es im November überhaupt beantragt werden können – vermutlich irgendwann danach! Wenn’s gut läuft!“ Auch etwas unsichtbar zu machen, ist eine künstlerische Leistung.
Romana Reiff fühlt sich spontan an den sehr einprägsamen Marketing-Slogan der damaligen Sofort-Hilfe erinnert: „wir lassen keinen zurück“! „…bis auf Künstler und Selbstständige, versteht sich“, sagt sie. „Für alle, die am 01.12.2020 ihre Mieten, ihre Krankenversicherung oder gar ihre Angestellten mit der tollen Novemberhilfe bezahlen wollten, gilt also: Pustekuchen und Prost! Da macht der Lockdown doch gleich noch etwas mehr Spaß!“ Mit „Lieber Olaf (Scholz) und lieber Peter (Altmeier)“, grüßt sie ihre neuen „Kollegen“: „Das habt ihr echt ‚super-light‘ hingekriegt!“
Hände nicht in den Schoß legen
Dennoch begegnet uns Romana Reiff mit einem Lächeln, das nicht einmal aufgesetzt wirkt. Weil Glück auch irgendetwas mit Akzeptanz zu tun hat, geht sie offensiv mit der Situation um und ist auf der Suche nach Alternativen. Eine hat sie gemeinsam mit Karikaturistin Lucy Hobrecht entwickelt. Für beide Künstlerinnen eine neue Erfahrung. Auf ihrer Internetseite unter „Corona-Storys“ findet man die Früchte der Zusammenarbeit: kreative Karikaturen zum Thema Corona, erklärt mit Alltagssituationen aus dem Baumarkt, beim Joggen oder beim Gesangsunterricht auf Distanz. Vier bis fünf Meter Abstand sind in Romanas Unterrichtsraum möglich. Ihr Resümee: „Die Gefahr sich bei diesem Unterfangen in einem Abstand von 4 bis 5 Metern mit Corona zu infizieren, ist in etwa genauso groß, wie im Straßenverkehr auf dem Weg dorthin zu verunglücken.
Die besten Hygienekonzepte gibt es dort, wo Künstler sind
Und weil das Immunsystem immer noch der beste Schutz gegen Corona ist, weiß sie – in Anlehnung an einen Rio Reiser-Titel – unter der Überschrift „wenn ich Königin von Deutschland wär“ Rat: Panik und Angst hingegen führen erwiesenermaßen dazu, dass unser Immunsystem geschwächt wird, dass wir schneller krank werden, viel schlechter Heilen und dass Depressionen zunehmen. Wenn ich also die wirklich große Last des Zepters in der Hand hielte, würden meine aktuellen Verfügungen heute wie folgt aussehen: Geht nur noch dorthin, wo es gute Hygienekonzepte gibt: Also ins Theater, ins Konzert, ins Museem, in eure Lieblingsbar und in euer Lieblingsrestaurant! Trefft euch mit Freunden nur in kleinen Gruppen, lacht gemeinsam, haltet Abstand und vor allem, besucht eure Angehörigen im Altenheim, damit sie nicht vereinsamen! (Rainer Sander)